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Die schönsten Erzählungen (Die schönsten Erzählungen / Geschichten) (German Edition)

Die schönsten Erzählungen (Die schönsten Erzählungen / Geschichten) (German Edition)

Titel: Die schönsten Erzählungen (Die schönsten Erzählungen / Geschichten) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lew Tolstoi
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dass ich jedes Mal, wenn ich gerade einschlummern wollte, alles wieder hörte und vor mir sah und aufsprang.
    Anscheinend muss er doch etwas wissen, was ich nicht weiß, dachte ich hinsichtlich des Obersten. Wüsste ich das, was er weiß, hätte ich auch eine Erklärung für das, was ich gesehen habe, und der Gedanke daran würde mich nicht mehr quälen. Doch soviel ich auch nachsann, ich konnte mir nicht vorstellen, was das Besondere war, was der Oberst wusste. Ich schlief erst gegen Abend ein, und auch das erst, nachdem ich zu einem Freund gegangen war und mich mit ihm sinnlos betrunken hatte.
    Meinen Sie nun etwa, ich hätte damals ohne weiteres angenommen, dass das, was ich gesehen hatte, etwas Unrechtes war? Durchaus nicht. Wenn das mit solcher Selbstverständlichkeit getan wird, dachte ich, und alle es für notwendig halten, dann müssen sie doch wohl etwas wissen, was ich nicht weiß, und ich bemühte mich, es zu ermitteln. Doch trotz all meiner damaligen und späteren Bemühungen habe ich es nie erfahren können. Ohne das zu wissen, konnte ich aber nicht die militärische Laufbahn einschlagen, wie ich es ursprünglich beabsichtigt hatte, und so bin ich weder Offizier geworden noch sonst irgendwo in Staatsdienste getreten und habe mich, wie Sie sehen, zu nichts als tauglich erwiesen.«
    »Nun, das können Sie uns nicht erzählen, dass Sie zu nichts tauglich gewesen sind«, warf einer von uns ein. »Sa gen Sie lieber, wie viele Menschen zu nichts getaugt hätten, wenn Sie nicht gewesen wären.«
    »Nun, das ist totaler Unsinn«, erklärte Iwan Wassiljewitsch ehrlich überzeugt.
    »Und was ist aus Ihrer Liebe zu der Tochter des Obersten geworden?«, fragten wir.
    »Aus meiner Liebe zu ihr? Nun, die verblasste von dem Tage an. Wenn sie über etwas nachsann und dabei, wie sie es häufig tat, lächelnd vor sich hin blickte, fiel mir jedes Mal ihr Vater ein, wie ich ihn damals auf dem Platz gesehen hatte, und mich überkam ein peinliches, unangenehmes Gefühl. Ich vermied es immer mehr, mit ihr zusammenzutreffen, und schließlich erloschen meine früheren Gefühle für sie ganz … Ja, so können mitunter Umstände eintreten, die das Leben eines Menschen wandeln und ihm eine andere Richtung geben. Und da behaupten Sie …«
    Damit schloss er seine Erzählung.
    1903
     

VOM RECHTEN UND VOM FALSCHEN LEBEN
    Tolstoi als Geschichten-Erzähler
     
     
    Sigrid Löffler
     
    Selbst wenn man den Konjunktur-Zyklen, denen auch Klassiker unterworfen sind, keine allzu große Bedeutung beimisst, lässt sich doch eines nicht übersehen: Lew Tolstoi ist wieder im Kommen. Das Eingehen eines Schriftstellers in den Kanon der Weltliteratur ist manchmal nichts als ein literarisches Begräbnis erster Klasse; es gestattet Autoren aber auch periodische Wiederauferstehungen. Eine solche widerfährt gerade, wie es scheint, dem russischen Grafen, Großgrundbesitzer, Ehemann und Vater von dreizehn Kindern, dem Schriftsteller, Lebensreformer, Gründer und Propheten einer Privatreligion Lew Nikolajewitsch Tolstoi (1828–1910).
    Der starrköpfige, missionarisch eifernde und zuletzt von seinen Jüngern gegängelte Alte von Jasnaja Poljana hat durch Christopher Plummer Filmgestalt angenommen, sein Roman »Anna Karenina« gewinnt in deutscher Neuübersetzung – der ersten seit fast fünfzig Jahren – neue Leser. Die Zeit scheint reif für einen frischen Blick nicht nur auf den Prediger, Moralisten und großen Romanautor Tolstoi, sondern auch auf den höchst produktiven Geschichten-Erzähler.
    Dies umso mehr, als Tolstoi nach den beiden Epochenromanen »Krieg und Frieden« und »Anna Karenina« allein den Roman »Auferstehung« (1899) veröffentlicht und sich ansonsten von der Großprosa abgekehrt und kleineren Erzählformaten zugewandt hat – der Novelle, der Parabel, der Erzählung, auch dem moralisierenden Volksmärchen, der frommen Fabel, der erbaulichen Kurzgeschichte. Einige dieser Erzählungen, die in den letzten drei Lebensjahrzehnten Tolstois – nach seiner großen Krise der späten 1870er Jahre – entstanden, gehören zu den besten und nachhaltigsten Werken, die dieser Autor geschaffen hat, nicht zuletzt deshalb, weil sie existentielle und universale Themen aufgreifen, die alle Menschen aller Zeiten berühren, etwa die Frage nach dem Sinn des Lebens angesichts des Todes.
    Vladimir Nabokov, der Tolstoi für den bedeutendsten russischen Prosaautor hielt, besteht darauf, den Prediger und den Künstler strikt auseinanderzuhalten und

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