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Die schönsten Erzählungen (Die schönsten Erzählungen / Geschichten) (German Edition)

Die schönsten Erzählungen (Die schönsten Erzählungen / Geschichten) (German Edition)

Titel: Die schönsten Erzählungen (Die schönsten Erzählungen / Geschichten) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lew Tolstoi
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Zivilisation und Natur zu repräsentieren haben, führt er nun den Kaufmann Brechunow und seinen Fuhrknecht Nikita gemeinsam in eine ultimative Katastrophe, was beider Charakter auf die äußerste Probe stellt. Sogar der nobel zugrunde gehende Baum aus »Drei Tode« findet hier seine Entsprechung: in der Gestalt eines schönen und charaktervollen Schlittenpferdes, dessen Erfrierungstod als ein Muster an stummer kreatürlicher Würde erscheint.
    Der Kaufmann Brechunow ist ein liebloser, egozentrischer und unehrlicher Neureicher, getrieben von unersättlicher Profitgier und dem niederträchtigen Impuls, alle Leute, seinen eigenen Knecht inbegriffen, ständig zu übervorteilen. Der Fuhrmann Nikita wirkt wie eine plastisch ausgearbeitete Variante zur Skizze des geduldigen Kutschers Fjodor in »Drei Tode«. Er ist gutmütig, arbeitsam und friedfertig, bescheidet sich mit dem, was ihm gegeben wird, und trägt seinem Herrn die stete Lohnprellerei nicht nach.
    Als die beiden mit dem Schlitten in einen apokalyptischen Schneesturm geraten, vom Weg abkommen und sich in der nächtlichen Steppe verirren, sehen sie sich unerwartet mit dem wahrscheinlichen Tod konfrontiert. Der Knecht in seinem dünnen Mantel ergibt sich demütig in sein Schicksal; seinen Herrn hingegen, der eben noch das Pferd ausspannen, den todgeweihten Nikita zurücklassen und sich allein retten wollte, überkommt eine jähe Erleuchtung, ein recht unmotivierter Durchbruch zu selbstloser Nächstenliebe. In seinem Pelz legt er sich im Schlitten auf seinen Knecht, hält den fast schon Erfrorenen warm und am Leben – und erfriert dabei selbst.
    Nicht nur dieser jähe Gesinnungswandel eines schalen und oberflächlichen Menschen angesichts des Todes verbindet die Geschichte »Herr und Knecht« thematisch mit der zehn Jahre zuvor geschriebenen Meistererzählung »Der Tod des Iwan Iljitsch« (erschienen 1886). Beide Male geht es Tolstoi darum, an einem Sterbenden das erwachende spirituelle Leben aufzuspüren, während der leibliche Tod eintritt. Beide Male beschreibt der Autor die Errettung aus einem schlecht und falsch geführten Leben im Augenblick des Todes. Beide Todes-Erzählungen sind letztlich Erlösungsgeschichten.
    Zu Anfang der Novelle liegt der hohe Gerichtsbeamte Iwan Iljitsch Golowin, der auf dem Gipfel seiner beruflichen Laufbahn mit 45 Jahren unverhofft gestorben ist, aufgebahrt in seiner standesgemäß geschmacklosen, überladenen Wohnung. Von seiner Ehefrau und seinen Kollegen wird der Verstorbene höchst konventionell, also sehr wenig betrauert. Die Ehefrau Iwan Iljitschs, die seine Todeskrankheit und sein wochenlanges Sterben als lästiges Ungemach und ungehörige Störung der häuslichen Ordnung empfand, sorgt sich vor allem um die Höhe der staatlichen Witwenrente. Und die Kollegen des Toten spekulieren, während sie Trauer heucheln, einzig über ihre Karriere- und Nachfolge-Chancen und über die Aussicht auf Posten und Pfründen, die ihnen sein Abgang eröffnet.
    Nach dieser satirisch geschärften Pompe-funèbre-Einleitung, die das Vorteilsdenken und die Gefühlsdürre des Bürgertums erbarmungslos bloßstellt, schaltet Tolstoi eine Rückblende ein und trägt das Leben seines Titelhelden nach: »Die Lebensgeschichte des Iwan Iljitsch ist sehr einfach und sehr gewöhnlich und doch entsetzlich.«
    Es stellt sich heraus, dass der Verblichene ein banales, spießerhaftes und selbstgefälliges Dasein geführt hat, mit dem einzigen, armseligen Ziel gesellschaftlicher Schicklichkeit und Anerkennung um jeden Preis. »Angenehm und in den Grenzen des guten Tons« sollte das Leben nach seiner Ansicht verlaufen – und so verlief es auch, bis Iwan Iljitsch eines Tages plötzlich erkrankte und immer furchtbarere Schmerzen litt. Schließlich mochte er sich von den bombastischen, aber ratlosen Ärzten nicht länger nasführen lassen, sondern musste sich der eigenen Sterblichkeit stellen. Angesichts des nahenden Todes will sich Iwan Iljitsch der Frage nicht länger verschließen, welchen Sinn sein Leben wohl hatte.
    Tolstois Antwort ist zugleich schrecklich und tröstlich. Sein Held, dessen Dasein ein lebender Tod gewesen ist, erkennt im Sterben – zu spät – sein sinnlos vergeudetes Leben, begreift aber gerade noch rechtzeitig, wie der Tod spirituell zu überwinden ist. Zwei Menschen stehen ihm bei, während er den Sinn des Lebens erkennt und der Erleuchtung teilhaftig wird: sein Sohn, der kleine Gymnasiast, der ihn aufrichtig liebt und ehrlich betrauert; und

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