Die schönsten Erzählungen (Die schönsten Erzählungen / Geschichten) (German Edition)
man nicht schon die Loge genommen hätte und wenn nicht auch Hélène sowie die Tochter und Petristschew – jener Untersuchungsrichter, mit dem die Tochter verlobt war – mitkommen sollten, die man doch nicht allein fahren lassen könne. Sie würde sonst viel lieber den Abend mit ihm verbringen. Aber nun solle er in ihrer Abwesenheit wenigstens nicht versäumen, genau die Anordnungen des Arztes zu befolgen.
»Ja, Fjodor Petrowitsch« – das war der Bräutigam – »wollte dich auch gern begrüßen. Ist es dir recht? Mit Lisa?«
»Sollen sie kommen.«
Seine Tochter, für den Theaterbesuch schon fertig angekleidet, kam mit halb entblößtem Oberkörper ins Zimmer; während ihm sein Körper so fürchterliche Qualen bereitete, stellte sie den ihren zur Schau. Kräftig, vor Gesundheit und Jugendfrische blühend und offenbar sehr verliebt, war ihr alles zuwider, was mit Krankheit, Leiden und Tod zusammenhing und ihr Glück stören konnte.
Ihr folgte Fjodor Petrowitsch: im Frack, mit riesiger weißer Hemdbrust, den langen, sehnigen Hals in den engen weißen Kragen eingezwängt, seine kräftigen Schenkel von den straff anliegenden schwarzen Hosen umspannt und das Haar à la Capoul onduliert. Er hatte über die eine Hand schon den Handschuh gestreift und seinen Chapeau claque unter den Arm geklemmt.
Als Letzter und von niemandem beachtet, kam auch der Sohn, der arme Junge, ins Zimmer geschlichen, in neuer Gymnasiastenuniform und Handschuhen. Er hatte tiefe blaue Ränder unter den Augen, über deren Bedeutung sich Iwan Iljitsch im Klaren war.
Sein Sohn tat ihm immer leid. Es war ergreifend, wie bestürzt und mitleidig er den Vater jetzt ansah. Außer Gerassim, so schien es Iwan Iljitsch, war Wassja der Einzige, der seinen Zustand erkannte und Mitleid mit ihm empfand.
Alle setzten sich, und Iwan Iljitsch wurde wieder nach seinem Befinden befragt. Dann trat ein bedrückendes Schweigen ein. Nach einer Weile fragte Lisa die Mutter wegen des Opernglases, und es folgte ein Wortgeplänkel zwischen Mutter und Tochter darüber, wer das Glas zuletzt gehabt und wohin er es gelegt habe. Es entstand eine Missstimmung.
Fjodor Petrowitsch erkundigte sich bei Iwan Iljitsch, ob er schon einmal die Sarah Bernhardt gesehen habe. Iwan Iljitsch verstand nicht gleich, wonach er gefragt wurde, und sagte dann: »Nein. Haben Sie sie schon gesehen?«
»Ja, in der ›Adrienne Lecouvreur‹.«
Praskowja Fjodorowna bemerkte, dass die Schauspielerin in der und der Rolle besonders hervorragend sei. Die Tochter widersprach. Es folgte ein Gespräch über die Noblesse und Natürlichkeit ihres Spiels – eines jener Gespräche, mit denen man in Gesellschaften gewöhnlich die Zeit ausfüllt.
Mitten im Gespräch sah Fjodor Petrowitsch zu Iwan Iljitsch und verstummte. Auch die andern verstummten, als sie Iwan Iljitsch nun ansahen. Er starrte mit blitzenden Augen vor sich hin und war offensichtlich empört über ihr Verhalten. Das musste irgendwie wieder in Ordnung gebracht werden, doch das war nicht so einfach. Auf irgendeine Weise musste das peinliche Schweigen gebrochen werden. Niemand konnte sich dazu entschließen, und alle fürchteten, das vom Anstand gebotene Lügengewebe könnte jählings zerreißen und alle würden sich der Wirklichkeit gegenübergestellt sehen. Lisa fasste als Erste Mut und unterbrach das Schweigen. Sie wollte vertuschen, was alle empfanden, stellte es jedoch sehr ungeschickt an.
»Übrigens, wenn wir rechtzeitig hinkommen wollen, ist es höchste Zeit, dass wir aufbrechen«, sagte sie mit einem Blick auf die ihr einst vom Vater geschenkte Uhr, und mit einem vielsagenden, kaum merklichen Lächeln, dessen Bedeutung allein ihnen beiden verständlich war, zu ihrem Verlobten hinschauend, raffte sie ihr rauschendes Kleid zusammen und stand auf.
Alle anderen standen ebenfalls auf, verabschiedeten sich und fuhren los.
Nachdem sie gegangen waren, glaubte Iwan Iljitsch eine Erleichterung zu verspüren; er fühlte sich von dem Lügengewebe befreit, das zusammen mit ihnen verschwunden war, doch die Schmerzen waren immer die gleichen, und wenn sie auch mal für einen Augenblick schwächer wurden, traten sie doch gleich wieder mit verstärkter Heftigkeit ein, und es ging mit ihm immer weiter bergab.
Wiederum verstrich Minute um Minute, Stunde um Stunde; nichts änderte sich, das Ende ließ immer noch auf sich warten, näherte sich aber unaufhaltsam und machte die Erwartung des Todes immer qualvoller.
»Ja, schicke Gerassim zu mir«,
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