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Die schönsten Erzählungen (Die schönsten Erzählungen / Geschichten) (German Edition)

Die schönsten Erzählungen (Die schönsten Erzählungen / Geschichten) (German Edition)

Titel: Die schönsten Erzählungen (Die schönsten Erzählungen / Geschichten) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lew Tolstoi
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Fröhlichkeit geherrscht, man hatte Freundschaften geschlossen, war von Hoffnungen erfüllt gewesen. Doch schon in den höheren Klassen waren diese glücklichen Momente seltener geworden. Später, während seiner ersten Stellung beim Gouverneur, hatte er noch einmal glückliche Augenblicke erlebt – jene, die mit seinen ersten Liebschaften verknüpft waren. Dann vermischte sich alles in seiner Erinnerung, und es blieb nur weniger Gutes übrig. Je länger er nachsann und je mehr sich seine Gedanken der unmittelbaren Vergangenheit zuwandten, umso seltener konnte er sich an etwas Erfreuliches erinnern.
    Da war seine übereilte Heirat und die mit ihr verbundene Enttäuschung, der Geruch aus dem Munde seiner Frau, die Sinnlichkeit, die Heuchelei. Und dazu der starre Dienst, die ständigen Geldsorgen – so war es Jahr um Jahr, zehn, zwanzig Jahre hindurch gegangen und immer unverändert geblieben.
    Je weiter das Leben fortschritt, umso mehr war es erstarrt.
    Ja, dachte er, ich ging stetig bergab, bildete mir jedoch ein, bergauf zu steigen. Genauso war es. In der öffentlichen Meinung stieg ich höher und höher, und in gleichem Schritt entschwand mein Leben. Und jetzt bin ich am Ende angelangt, jetzt muss ich sterben!
    Wie lässt sich das erklären? Wodurch? Das kann doch nicht möglich sein! Ist es denn möglich, dass mein Leben so sinnlos und schlecht gewesen wäre? Und selbst wenn es wirklich so sinnlos und schlecht gewesen sein sollte, warum muss ich dann unter solchen Qualen sterben? Etwas stimmt da nicht.
    Oder habe ich nicht so gelebt, wie es nötig gewesen wäre? – ging es ihm plötzlich durch den Kopf. Aber was lässt sich gegen mein Leben einwenden, da ich doch in allem gewissenhaft meine Pflicht erfüllt habe?, dachte er und wies diese einzige Lösung des Rätsels über Leben und Tod sofort als eine gar nicht in Frage kommende Möglichkeit von sich.
    Und was wünsche ich mir jetzt? Zu leben? Wie zu leben? So zu leben, wie ich es während meiner Amtstätigkeit getan habe, wenn der Gerichtsbeamte bei meinem Eintritt in den Sitzungssaal verkündete: »Das Gericht kommt!« – »Das Gericht kommt, das Gericht kommt«, wiederholte er mehrmals für sich. »Und nun ist das Gericht da! Aber ich bin doch unschuldig!«, schrie er voller Erbitterung. »Wofür werde ich bestraft?« Dann hörte er auf zu weinen, drehte sich mit dem Gesicht zur Wand und dachte immer wieder über ein und dasselbe nach: warum und wofür er so furchtbar leiden musste.
    Doch so viel er auch nachsann, er konnte hierauf keine Antwort finden. Und wenn sich in ihm der schon öfter aufgetauchte Gedanke regte, dass dies alles deshalb geschah, weil er nicht so gelebt hatte, wie es hätte sein müssen, rief er sich sofort die ganze Untadelhaftigkeit seiner Lebensweise ins Gedächtnis und verscheuchte diesen sonderbaren Gedanken.
    10
     
    So vergingen nochmals zwei Wochen. Iwan Iljitsch verließ nicht mehr die Chaiselongue. Er wollte nicht im Bett liegen und hatte sich als Lager die Chaiselongue gewählt. Und während er, das Gesicht meist der Wand zugekehrt, so dalag, krümmte er sich einsam unter den nie nachlassenden Schmerzen und grübelte einsam über immer dieselbe nicht zu entwirrende Frage nach: Wie steht es um mich? Ist es wirklich wahr, dass ich sterben muss? Und die Stimme in seinem Innern antwortete: Ja, es ist wahr. – Warum habe ich mich so zu quälen? Dann antwortete jene Stimme: Das ist nun mal so und lässt sich nicht ändern. Das war das Einzige, was ihn noch interessierte; es schloss alles andere aus.
    Schon seit dem Beginn seiner Krankheit, nachdem er zum ersten Mal einen Arzt konsultiert hatte, war Iwan Iljitschs Leben von zwei einander entgegengesetzten und miteinander abwechselnden Stimmungen beherrscht. Bald war er in Erwartung des unfassbaren, schrecklichen Todes von Verzweiflung erfüllt; bald war es die Hoffnung und das gespannte Interesse, mit dem er die Funktionen seiner Körperorgane beobachtete; bald richtete er sein Augenmerk einzig auf den Blinddarm oder die Niere, die zeitweilig die ordnungsgemäße Ausübung ihrer Pflichten verweigerten; bald sah er nur den unfassbaren, schrecklichen Tod vor sich, dem man sich auf keine Weise entziehen konnte.
    Von diesen beiden Stimmungen wurde er seit seiner Erkrankung abwechselnd beherrscht. Doch je weiter die Krankheit fortschritt, umso fragwürdiger und haltloser wurden seine Erwägungen über die Niere und umso mehr verstärkte sich das Bewusstsein des unaufhaltsam nahenden

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