Die schönsten Erzählungen (Die schönsten Erzählungen / Geschichten) (German Edition)
Todes.
Er brauchte nur seinen jetzigen Zustand mit dem vor drei Monaten zu vergleichen, brauchte nur daran zu denken, wie es mit ihm Schritt für Schritt bergab gegangen war – und alle seine Hoffnungen mussten zusammenbrechen.
In jener letzten Zeit, wenn er, das Gesicht der Rücklehne der Chaiselongue zugewandt, einsam in seinem Zimmer lag, einsam inmitten einer dichtbevölkerten Stadt, inmitten seiner vielen Bekannten und seiner Familie, in einer Einsamkeit, wie es sie nirgends, weder auf dem Grunde des Meeres noch in der Tiefe der Erde vollkommener geben konnte – in der letzten Periode dieser fürchterlichen Einsamkeit lebte Iwan Iljitsch nur noch in Erinnerungen an vergangene Zeiten. Eines nach dem andern erstanden vor seinem geistigen Auge die Bilder der Vergangenheit. Seine Erinnerungen begannen immer mit der jüngsten Vergangenheit, erstreckten sich nach und nach bis auf die am weitesten zurückliegende Zeit, auf die Kindheit, und verweilten dort. Wenn Iwan Iljitsch an das gekochte Pflaumenkompott dachte, das ihn an dem betreffenden Tage gebracht worden war, erinnerte er sich der rohen, leicht zusammengeschrumpften französischen Dörrpflaumen, die er in der Kindheit gegessen hatte; er vergegenwärtigte sich ihren eigentümlichen Geschmack und wie ihm das Wasser im Munde zusammengelaufen war, nachdem er sie bis auf den Kern durchgebissen hatte, und in Verbindung mit dieser Erinnerung an den Geschmack der Pflaumen wurde in ihm eine ganze Reihe anderer Erinnerungen an jene Zeit lebendig: an die Kinderfrau, den Bruder, das Spielzeug. Nein, ich darf nicht daran denken, es ist zu schmerzlich, sagte er sich dann und wandte seine Gedanken wieder der Gegenwart zu. Nun betrachtete er einen Knopf an der Rücklehne der Chaiselongue und die Krähenfüße, die sich um ihn herum im Saffianleder gebildet hatten. Saffianleder ist teuer und nicht dauerhaft, es hatte deswegen Auseinandersetzungen gegeben. Ja, da war schon einmal etwas aus Saffianleder gewesen und schon einmal eine Auseinandersetzung, als wir das Portefeuille unseres Vaters zerrissen hatten und von ihm bestraft wurden, worauf uns die Mutter zum Trost Zuckergebäck brachte! Und abermals war er mit seinen Erinnerungen bei der Kindheit angelangt, abermals wurde ihm schwer ums Herz, und er bemühte sich, diese Gedanken zu verscheuchen und an etwas anderes zu denken.
Und abermals kamen zugleich mit diesen Erinnerungen in seiner Seele andere Gedanken auf – wie sich seine Krankheit allmählich verschlimmert, sein Zustand sich verschlechtert hatte. Auch hierbei ergab sich dasselbe Bild: Je weiter die Zeit zurücklag, umso mehr war sie von Leben erfüllt gewesen. Es hatte mehr Gutes im Leben gegeben, und das Leben selbst hatte mehr Inhalt gehabt. Das eine verschmolz mit dem andern. Wie meine Qualen immer unerträglicher wurden, so ist auch das ganze Leben immer schlechter geworden, dachte Iwan Iljitsch. Einen Lichtpunkt hat es in weit zurückliegender Zeit, am Anfang des Lebens, gegeben, doch in der Folge hat sich das Leben immer stärker und immer schneller verdüstert. In umgekehrter Proportion zum Quadrat der Entfernung vom Tode, sagte er sich. Und diese Vorstellung von einem Stein, der aus großer Höhe mit zunehmender Geschwindigkeit nach unten saust, setzte sich in seiner Seele fest. Das Leben mit all seinen immer unerträglicher werdenden Qualen flog schneller und schneller dem Ende, dem fürchterlichsten Untergang entgegen. Ich fliege … Er zuckte zusammen, bewegte sich, wollte sich wehren. Doch er wusste bereits, dass ein Widerstand nicht möglich war, und richtete seine Augen, die des Schauens müde waren, sich aber dennoch nicht dem Anblick dessen verschließen konnten, was vor ihm stand, erneut auf die Rücklehne der Chaiselongue und erwartete – erwartete den furchtbaren Sturz, den Aufprall auf die Erde, die grauenvolle Zerschmetterung. Wehren kann ich mich nicht, dachte er, aber wenn ich wenigstens begreifen könnte, wofür ich das erleiden muss. Aber auch das ist nicht möglich. Zu erklären wäre es nur, wenn man sagen könnte, ich hätte nicht so gelebt, wie es nötig war. Doch das kann mir wirklich niemand vorwerfen, sagte er sich eingedenk der ganzen Rechtschaffenheit und Korrektheit, des ganzen Anstands seiner Lebensführung. »Nein, das kann ich keinesfalls zugeben«, murmelte er vor sich hin und verzog die Lippen zu einem Lächeln, als ob jemand dieses Lächeln sehen und dadurch getäuscht werden könnte … »Es gibt keine Erklärung! Nur
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