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Die schönsten Erzählungen (Die schönsten Erzählungen / Geschichten) (German Edition)

Die schönsten Erzählungen (Die schönsten Erzählungen / Geschichten) (German Edition)

Titel: Die schönsten Erzählungen (Die schönsten Erzählungen / Geschichten) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lew Tolstoi
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Verzweiflung gelöscht. Und abermals wurde er von Schmerzen, von Schwermut befallen – es war immer und immer wieder das Gleiche. Sich allein überlassen, hätte er gern jemand zu sich gerufen, doch wusste er im Voraus, dass er sich im Beisein anderer noch schlechter fühlen würde. Vielleicht sollte ich noch einmal Morphium bekommen, um mich wenigstens zeitweilig zu betäuben?, dachte er. Ich will dem Arzt sagen, dass er mir irgendwie Erleichterung verschaffen muss, denn diese Schmerzen sind unerträglich, einfach unerträglich.
    So verstrich eine Stunde und eine zweite. Doch nun ertönte an der Eingangstür die Klingel. Ob das der Arzt ist? Es war wirklich der Arzt; frisch, wohlgenährt und gutgelaunt, trat er mit einem Gesichtsausdruck ein, der zu besagen schien: Da habt ihr euch wieder mal unnötig einen Schreck einjagen lassen, aber ich werde das alles im Nu in Ordnung bringen. Der Arzt wusste, dass dieser Gesichtsausdruck hier nicht angebracht war; aber er hatte ihn eben ein für alle Mal angenommen und konnte ihn nicht mehr ablegen – ähnlich einem Menschen, der morgens einen Frack angezogen hat und eine Visite nach der andern macht.
    Er rieb sich vergnügt, mit aufmunternder Miene die Hände.
    »Meine Hände sind klamm geworden. Es ist tüchtiger Frost. Ich will mich erst einmal etwas erwärmen«, sagte er in einem Ton, als brauchte man nur ein wenig zu warten, bis er sich erwärmt hätte, dann würde er schon für alles Rat schaffen.
    »Nun, wie ist das Befinden? …«
    Iwan Iljitsch fühlte, dass der Arzt eigentlich hinzufügen wollte: »Wie stehen die Geschäfte?«, aber wohl einsah, dass dies nicht anging, und stattdessen sagte: »Wie haben Sie die Nacht verbracht?«
    Als Iwan Iljitsch hierauf den Arzt anschaute, stand in seinem Gesicht deutlich die Frage geschrieben: Wirst du dir denn nie ein Gewissen daraus machen, so zu heucheln?
    Allein der Arzt schien diese Frage nicht verstehen zu wollen, und Iwan Iljitsch sagte: »Die Nacht war wieder fürchterlich. Ich hatte unerträgliche Schmerzen. Wenn sie wenigstens für einen Augenblick nachgelassen hätten!«
    »Ja, den Kranken scheint immer alles unerträglich zu sein. So, jetzt habe ich mich wohl genügend erwärmt, so dass selbst die fürsorgliche Praskowja Fjodorowna nicht behaupten kann, ich strömte Kälte aus. Also denn – guten Tag!«, sagte der Arzt und drückte Iwan Iljitsch die Hand.
    Er gab jetzt seinen scherzhaften Ton auf und begann, mit ernstem Gesicht den Kranken zu untersuchen, fühlte ihm den Puls, prüfte die Temperatur und machte sich daran, seinen Körper zu beklopfen und abzuhorchen.
    Für Iwan Iljitsch stand es außer Frage, dass dies alles leeres, unnützes Getue war, aber als der Arzt nun auch noch vor ihm niederkniete, sich über ihn ausstreckte, sein Ohr bald weiter oben, bald weiter unten auf die Brust legte und über ihm mit ungeheuer wichtiger Miene verschiedene gymnastische Verrenkungen ausführte, da ließ er sich dennoch zu der Annahme verleiten, es könnte vielleicht etwas Gutes dabei herauskommen – wie er sich früher mitunter auch von den Reden der Rechtsanwälte hatte beeinflussen lassen, obwohl ihm zur Genüge bekannt war, dass sie alle logen und warum sie logen.
    Während der Arzt noch auf der Chaiselongue kniete und noch immer irgendwo herumklopfte, ertönte an der Tür das Rauschen des seidenen Kleides von Praskowja Fjodorowna, und man hörte, wie sie Pjotr Vorwürfe machte, weil er ihr nicht die Ankunft des Arztes gemeldet hatte.
    Sie trat ein, küsste ihren Mann und versuchte sofort glaubhaft zu machen, dass sie schon lange aufgestanden und nur infolge eines Missverständnisses beim Eintreffen des Arztes nicht zugegen gewesen sei.
    Iwan Iljitsch sah sie an, musterte sie von Kopf bis Fuß, und der Anblick ihrer zarten, molligen, gepflegten Hände, des vollen Halses, ihrer glänzenden Haare und des Ausdrucks ihrer lebensprühenden Augen erfüllte ihn mit Ingrimm. Er hasste sie ohnehin aus voller Seele, und der bei ihrer Berührung in ihm neu aufgewallte Hass gegen sie bereitete ihm seelischen Schmerz.
    Praskowja Fjodorownas Einstellung zu ihrem Mann und dessen Krankheit war immer noch dieselbe. Wie ein Arzt sich eine bestimmte Einstellung zu seinen Patienten zu eigen macht, von der er nicht mehr abkommen kann, so hatte auch sie sich in den Kopf gesetzt, dass er nicht das tue, was nötig war, dass er selbst schuld sei, wenn keine Besserung eintrete, und sie ihm nur aus Fürsorge für ihn deswegen Vorwürfe mache

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