Die Schopenhauer-Kur
wohl angewandt worden war. Wie schockiert die Studenten waren, als sie erfuhren, dass es keine Psychotherapie oder medikamentöse Behandlung gewesen war, sondern die Konfrontation mit dem Tod, die das bewirkt hatte! Diesen Patientinnen verdankte er viel. Was für ein Vorbild sie für ihn waren in seiner Zeit der Not! Wie bedauerlich, dass er es ihnen nicht erzählen konnte. Lebe richtig, rief er sich ins Gedächtnis zurück, und sei zuversichtlich, dass Gutes von dir ausstrahlt, auch wenn du nie davon erfährst.
Und wie gehst du mit deinem Krebs um?, fragte er sich. Ich weiß eine Menge über die Panikphase, aus der ich jetzt Gott sei Dank herausfinde, obwohl es immer noch jene Stunden gegen drei Uhr morgens gibt, in denen mich namenloses Entsetzen überfällt, gegen das weder Argumente noch Rhetorik helfen – nichts hilft außer Valium, das Licht der anbrechenden Dämmerung oder ein heißes Wannenbad.
Aber habe ich mich verändert, oder bin ich klüger geworden ? Erlebe ich meine goldene Periode? Vielleicht bin ich meinen Gefühlen näher – vielleicht ist das Wachstum. Ich glaube, nein, ich weiß, ich bin ein besserer Therapeut geworden – aufmerksamer. Ja, definitiv bin ich jetzt ein anderer Therapeut. Vor meinem Melanom hätte ich nie gesagt, ich sei verliebt in die Gruppe. Ich hätte nicht im Traum daran gedacht, derart intime
Details aus meinem Leben zu enthüllen – über Miriams Tod, meinen sexuellen Opportunismus. Und der unwiderstehliche Zwang, sie der Gruppe heute zu beichten – Julius schüttelte erstaunt den Kopf –, der war wirklich verwunderlich, dachte er. Ich verspüre den Drang, gegen Gewohnheiten anzugehen, gegen meine Ausbildung, meine eigene Lehre.
Eins ist sicher: Sie wollten mich nicht hören. Das war echter Widerstand! Sie wollten nicht an meinen Fehlern oder dunklen Seiten teilhaben. Aber sobald sie auf dem Tisch waren, ereigneten sich interessante Dinge. Tony kam richtig in Fahrt! Verhielt sich wie ein erfahrener Therapeut – als er mich fragte, ob ich mit der Reaktion der Gruppe zufrieden sei, versuchte, mein Betragen als normal darzustellen, als er mit seinem »Warum jetzt?« nachhakte. Großartig. Ich könnte ihn mir beinahe als Gruppenleiter vorstellen, nachdem ich nicht mehr da bin – das wäre doch mal was, ein Therapeut mit abgebrochenem College und Strafvollzugserfahrung. Und einige andere – Gill, Stuart, Pam – meldeten sich zu Wort, nahmen sich meiner an und sorgten für Konzentration. Jung hatte wohl anderes im Sinn, als er sagte, nur der verwundete Heiler könne wahrhaft heilen, aber vielleicht ist das Entwickeln therapeutischer Fähigkeiten bei den Patienten Grund genug dafür, dass Therapeuten ihre Wunden offenlegen.
Julius schlenderte den Flur entlang zu seinem Büro und dachte weiter über die Sitzung nach. Wie Gill heute aufgedreht hatte! Pam als »obersten Gerichtshof« zu bezeichnen, war fantastisch – und zutreffend. Ich muss Pam helfen, dieses Feedback zu integrieren. Das ist mal ein Fall, in dem Gills Blick schärfer ist als meiner. Ich habe Pam seit langem so gerne, dass ich ihre Pathologie übersehen habe – womöglich konnte ich ihr deshalb nicht in ihrer Besessenheit von John helfen.
Julius schaltete seinen Computer an und öffnete einen Ordner mit dem Titel »Ideen für Kurzgeschichten« – eine Datei, die das große unerledigte Projekt seines Lebens enthielt: ein richtiger Schriftsteller zu sein. Er war ein guter Fachautor, der
zwei Bücher und hundert Artikel wissenschaftlicher Literatur verfasst hatte, doch Julius sehnte sich danach, Belletristik zu schreiben, und sammelte seit Jahrzehnten Handlungen für Kurzgeschichten, die seiner Fantasie und seiner Praxis entstammten. Obgleich er mehrere angefangen hatte, fehlte es ihm an Zeit und Mut, eine Geschichte zu beenden und zur Publikation einzureichen.
Er ging die Listen mit seinen Entwürfen durch, klickte auf »Opfer treffen auf ihren Feind« und las zwei seiner Ideen. Der erste Zusammenstoß fand auf einem eleganten Schiff statt, das vor der türkischen Küste kreuzte. Ein Psychiater betritt das Bordkasino und erblickt auf der anderen Seite des rauchgeschwängerten Raums einen ehemaligen Patienten, einen Betrüger, der ihm einst fünfundsiebzigtausend Dollar abgeschwindelt hat. Die zweite Konfrontation betraf eine Rechtsanwältin, die in einem Pro-Bono-Fall einen der Vergewaltigung Beschuldigten verteidigen sollte. Bei ihrem ersten Gespräch mit ihm kommt in ihr der Verdacht
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