Die Schopenhauer-Kur
auf, dass er der Mann ist, der sie vor zehn Jahren missbraucht hat.
Er machte einen neuen Eintrag: »In einer Therapiegruppe begegnet eine Frau einem Mann, der vor vielen Jahren ihr Dozent war und sie sexuell ausbeutete.« Nicht übel. Großartiges Potenzial als Geschichte, dachte Julius, obgleich er wusste, dass sie nie geschrieben werden würde. Es gab ethische Probleme : Er brauchte die Zustimmung von Pam und Philip. Und er brauchte außerdem das Verstreichen von zehn Jahren, die er nicht hatte. Aber auch Potenzial für eine gute Therapie, fand Julius. Er war überzeugt davon, dass sich etwas Positives daraus ergeben konnte – wenn sie nur beide in der Gruppe blieben und es ertrugen, dass an alte Wunden gerührt wurde.
Julius nahm Philips Übersetzung des Textes über die Schiffspassagiere zur Hand. Er las ihn mehrmals, weil er seine Bedeutung oder Relevanz verstehen wollte. Aber trotzdem löste er bei ihm nur Kopfschütteln aus. Philip hatte ihn damit trösten wollen. Doch wo war der Trost?
»Auch wenn keine besondere Erregung eintritt, trage ich eine
fortwährende innere Sorglichkeit in mir, die mich Gefahren sehen
und suchen läßt, wo keine sind. Sie vergrößert mir die kleinste
Widerwärtigkeit ins Unendliche und erschwert mir vollends den
Verkehr mit den Menschen.« Ref 109
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Wie Arthur lebte
Nach Erlangung seines Doktortitels lebte Arthur in Berlin, kurz in Dresden, München und Mannheim und ließ sich dann auf der Flucht vor einer Choleraepidemie für die letzten dreißig Jahre seines Lebens in Frankfurt nieder, das er bis auf eintägige Ausflüge nie verließ. Er wurde für seine Arbeit nicht bezahlt, wohnte in gemieteten Räumen, hatte nie Haus, Herd, Frau, Familie, enge Freundschaften. Er war sozial nicht eingebunden, hatte keine guten Bekannten und keinen Sinn für Gemeinschaft – oft war er sogar Gegenstand des örtlichen Spotts. Erst in den allerletzten Jahren seines Lebens hatte er ein Publikum, eine Leserschaft, Einkünfte aus seinen Schriften. Da er so wenige Beziehungen pflegte, bestand seine dürftige Korrespondenz hauptsächlich aus Geschäftsbriefen.
Trotz seines Mangels an Freunden wissen wir mehr über sein Privatleben als über das der meisten anderen Philosophen, weil er in seinen Schriften überraschend persönlich war. In den ersten Abschnitten der Einleitung zu seinem Hauptwerk, Die Welt als Wille und Vorstellung, stimmt er zum Beispiel einen für eine philosophische Abhandlung ungewöhnlichen Ton an.
Seine makellose und klare Prosa macht unmittelbar einsichtig, dass er mit dem Leser persönlich kommunizieren will. Zunächst instruiert er ihn, wie sein Buch zu lesen sei, angefangen mit der Bitte, es zweimal zu lesen – und zwar mit viel Geduld. Als Nächstes drängt er ihn zur Lektüre seines vorangegangenen Werkes Über die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde, das eine Einleitung zu diesem Buch sei, und versichert ihm, er werde ihm für diesen Rat sehr dankbar sein. Dann behauptet er, der Leser werde noch mehr profitieren, wenn er mit dem herausragenden Werk von Kant und dem göttlichen Platon vertraut sei. Er merkt an, dass er bei Kant allerdings schwer wiegende Fehler entdeckt habe, die er in einem Anhang erörtere (der ebenfalls vorher gelesen werden sollte), und schließlich, dass diejenigen Leser, denen die Upanischaden bekannt seien, sein Buch am allerbesten verstehen würden. Und zu guter Letzt vermutet er (ganz zu Recht), den Leser mit seinen anmaßenden, unbescheidenen und zeitaufwändigen Forderungen wütend und ungeduldig gemacht zu haben. Wie seltsam, dass dieser persönlichste aller philosophischen Autoren in seinem Leben so wenig mit Menschen zu tun hatte!
Außer in den persönlichen Anmerkungen, mit denen sein Werk durchsetzt ist, offenbart Schopenhauer vieles über sich in einem autobiografischen Dokument mit dem griechischen Titel »Εις εαυτoν« (Über mich), einem Manuskript, das ein Schleier aus Geheimnissen und Kontroversen umgibt und dessen eigenartige Geschichte folgende ist:
Spät in seinem Leben sammelte sich um Arthur ein sehr kleiner Kreis von Enthusiasten oder »Evangelisten«, die er tolerierte, aber weder respektierte noch gern hatte. Diese Bekannten hörten ihn oft von »Über mich« sprechen, einem Tagebuch, das er seit dreißig Jahren mit Beobachtungen über sich füllte. Doch nach seinem Tode geschah etwas Merkwürdiges: »Über mich« war nirgends zu finden. Nachdem sie vergeblich gesucht hatten, befragten
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