Die Schopenhauer-Kur
»Und das tun Sie noch immer nicht. Sehen Sie, deswegen vermisse ich hier einen Co-Therapeuten. Ich war stets der Meinung, dass, wenn es etwas Außerordentliches gibt, über das nicht gesprochen wird, auch an nichts anderem von Bedeutung gearbeitet werden kann. Meine Aufgabe ist es, Hindernisse zu entfernen; das letzte, was ich mir wünsche, ist, ein Hindernis zu sein. Jetzt ist es schwer, aus mir herauszugehen, aber ich habe das Gefühl, Sie weichen mir aus, oder besser gesagt, Sie weichen meiner tödlichen Krankheit aus .«
Bonnie sagte: »Ich will ja darüber reden, was mit Ihnen geschieht, aber ich möchte Ihnen nicht wehtun.«
Andere stimmten zu.
»Ja, da haben Sie den Finger genau auf die wunde Stelle gelegt. Hören Sie mir jetzt gut zu: Es gibt nur eine Möglichkeit, wie Sie mir wehtun können – und zwar, indem Sie sich von mir absondern. Es ist schwierig, mit jemandem zu sprechen, der eine lebensbedrohliche Krankheit hat – das weiß ich. Die Leute
haben dann die Tendenz, leise zu treten; sie wissen nicht, was sie sagen sollen.«
»Das passt genau auf mich«, meinte Tony. »Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Aber ich will versuchen, Ihnen nahe zu bleiben.«
»Das spüre ich, Tony.«
»Ist es nicht so«, fragte Philip, »dass die Menschen den Kontakt mit Schwerkranken fürchten, weil sie nicht mit dem Tod konfrontiert werden wollen, der sie alle erwartet?«
Julius nickte. »Das klingt wichtig, Philip. Gehen wir dem doch mal nach.« Wenn jemand anders als Philip das gesagt hätte, hätte Julius mit Sicherheit gefragt, ob er über seine eigenen Gefühle spreche. In diesem Stadium wollte er Philip jedoch nur in seiner Bereitwilligkeit, sich zu äußern, unterstützen. Er musterte die Gruppe und wartete auf eine Reaktion.
»Vielleicht«, sagte Bonnie, »ist was dran an dem, was Philip sagt, denn ich habe in jüngster Zeit ein paar Albträume gehabt, in denen jemand versuchte, mich zu ermorden, und dann war da ja noch dieser Albtraum, den ich geschildert habe – in dem ich versuchte, einen Zug zu erwischen, der am Auseinanderfallen war.«
»Ich merke, dass ich unterschwellig viel furchtsamer bin als sonst«, sagte Stuart. »Einer von meinen Tenniskumpels ist Dermatologe, und ich habe ihn im letzten Monat zweimal gebeten, eine meiner Hautverletzungen zu überprüfen. Ich denke oft an Melanome.«
»Julius«, sagte Pam, »seit Sie mir von Ihrem Melanom erzählt haben, gehen Sie mir nicht mehr aus dem Kopf. Es ist was dran an dem, was man über mich sagt, dass ich nämlich hart gegenüber Männern bin, aber Sie sind die große Ausnahme – Sie sind der liebste Mann, den ich je gekannt habe. Und es stimmt , dass ich Sie gern beschützen möchte. Das habe ich gespürt, als Philip Sie so festnagelte. Ich fand das – und finde es immer noch – gefühllos und unsensibel von ihm. Und die Frage, ob ich mir meines eigenen Todes stärker bewusst bin – na
ja, kann sein, aber nicht wissentlich. Allerdings bin ich auf der Suche nach tröstlichen Sätzen, die ich Ihnen sagen könnte. Gestern Abend habe ich etwas Interessantes gelesen, eine Passage in Nabokovs Memoiren, Erinnerung, sprich, in der er das Leben als Funken zwischen zwei gleich dunklen Zonen beschreibt, der Dunkelheit vor unserer Geburt und der Dunkelheit nach unserem Tod. Und wie merkwürdig es ist, dass wir uns um letztere so sehr sorgen und um erstere so wenig. Irgendwie fand ich das ungeheuer beruhigend und habe es sofort markiert, um es für Sie parat zu haben.«
»Das ist ein Geschenk, Pam. Vielen Dank. Was für ein außergewöhnlicher Gedanke. Und er ist beruhigend, wenn ich auch nicht ganz sicher bin, warum. Ich mag die erste Zone lieber, die vor der Geburt – sie erscheint mir freundlicher –, vielleicht ist sie für mich voll Verheißung, ein Potenzial des Kommenden.«
»Dieser Gedanke«, sagte Philip, »den ihm Nabokov übrigens zweifellos geklaut hat, war für Schopenhauer ebenfalls beruhigend. Er meinte, nach unserem Tod würden wir das sein, was wir vor unserer Geburt waren, und machte sich dann daran, die Unmöglichkeit zu beweisen, dass es mehr als eine Art von Nichts geben kann.«
Julius hatte keine Gelegenheit, etwas zu erwidern. Pam funkelte Philip an und bellte eine Antwort: »Hier haben wir die perfekte Illustration dafür, dass Ihr Wunsch, Berater zu werden, ein monströser Witz ist. Wir beschäftigen uns mit zarten Gefühlen, und worauf es Ihnen am meisten ankommt, worauf es Ihnen ausschließlich ankommt, ist
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