Die Schopenhauer-Kur
reichte jedem Gruppenmitglied eine Kopie und rezitierte den Text dann mit geschlossenen Augen aus dem Gedächtnis.
»Wenn du auf einer Seereise bist und das Schiff zeitweise in einem Hafen vor Anker liegt, gehst du vielleicht Wasser holen und sammelst nebenbei auch ein paar Muscheln und Wurzelstöcke auf. Doch deine Gedanken werden stets auf das Schiff gerichtet sein und du wirst dich immer wieder umsehen, ob nicht der Steuermann ruft. Und wenn er es tut, wirst du diesem Ruf folgen und alles verlassen müssen, um nicht einem Sklaven gleich wie ein Schaf gebunden in das Schiff geworfen zu werden.
So ist es auch im Leben. Wenn dir statt Muscheln und Wurzelstöcken Frau und Kinder gegeben werden, so greife zu. Doch wenn der Steuermann dich ruft, so eile zum Schiff und lasse alles hinter dir, ohne zurückzuschauen. Und bist du ein Greis, so bleibe so nahe wie möglich am Schiff, damit du nicht zurückbleibst, wenn der Steuermann ruft.«
Philip hielt inne und streckte die Arme aus, als wollte er sagen: »Da ist es.«
Die anderen studierten die Passage. Sie waren verwirrt. Stuart brach das Schweigen: »Ich versuche es, Philip, aber ich kapiere es nicht. Was ist daran von Wert für Julius? Oder für uns?«
Julius zeigte auf seine Armbanduhr. »Tut mir Leid, doch die Zeit ist um. Aber ich möchte auf eins hinweisen. Ich betrachte eine Aussage oder Handlung oft unter zwei Aspekten – unter dem des Inhalts und unter dem des Prozesses – und mit Prozess meine ich das, was es uns über das Wesen der Beziehung zwischen den Beteiligten verrät. Wie Ihnen, Stuart, ist auch
mir der Inhalt von Philips Botschaft nicht unmittelbar verständlich : Ich muss ihn studieren, und vielleicht kann er bei einem der nächsten Treffen Thema sein. Ich weiß jedoch, Philip, dass Sie wie Pam an mich gedacht haben und mir ein Geschenk machen wollten, und Sie haben sich große Mühe damit gegeben : Sie lernten den Text auswendig, und Sie machten Kopien. Und was bedeutet das? Es spiegelt Ihre Fürsorge für mich wider. Und was empfinde ich dabei? Ich bin gerührt, ich weiß es zu schätzen, und ich freue mich auf die Zeit, wenn Sie Ihre Fürsorge in eigenen Worten ausdrücken können.«
»Man kann ferner in der bis hieher betrachteten Hinsicht das
Leben mit einem gestickten Stoffe vergleichen, von welchem
jeder in der ersten Hälfte seiner Zeit die rechte, in der zweiten
aber die Kehrseite zu sehn bekäme: letztere ist nicht so
schön, aber lehrreicher; weil sie den Zusammenhang der
Fäden erkennen läßt.« Ref 108
30
Als die Gruppenmitglieder draußen waren, beobachtete Julius, wie sie die Stufen vorm Haus zur Straße hinunterstiegen. Statt einzeln zu ihren geparkten Autos auszuscheren, gingen sie zusammen weiter, zweifellos auf dem Weg ins Café. Oh, wie gern hätte er nach seiner Windjacke gegriffen und wäre ihnen die Treppe hinab nachgerannt. Aber das war ein anderer Tag, ein anderes Leben, ein anderes Paar Beine, dachte er, während er den Flur entlang zu dem Computer in seinem Büro schlurfte, um seine Notizen über das Treffen einzugeben. Plötzlich änderte er seine Meinung, kehrte um in den Gruppenraum, holte seine Pfeife heraus und genoss das satte Aroma eines türkischen Tabaks. Er hatte kein spezielles Ziel außer dem, noch ein paar Minuten in der Erinnerung an die Sitzung zu schwelgen.
Das heutige Treffen war wie die letzten drei oder vier fesselnd gewesen. Seine Gedanken schweiften zurück zu den Gruppen von Brustkrebspatientinnen, die er vor so langer Zeit geleitet hatte. Wie oft hatten dort die Mitglieder von einer goldenen Periode gesprochen, die einsetzte, sobald sie die Panik der Erkenntnis überwunden hatten, tatsächlich sterben zu müssen. Manche meinten, das Leben mit Krebs habe sie klüger
gemacht, selbstverwirklichter, während andere neue Prioritäten gesetzt hatten, stärker geworden waren, gelernt hatten, Nein zu sagen zu Aktivitäten, die ihnen nicht mehr wichtig waren, und Ja zu solchen, auf die es ankam – wie der liebevolle Umgang mit Familie und Freunden, der Genuss schöner Dinge und des Wechsels der Jahreszeiten. Aber wie schade, hatten viele geklagt, dass sie erst gelernt hatten zu leben, als ihre Körper vom Krebs durchsiebt war.
Diese Veränderungen waren so drastisch – eine Patientin hatte sogar verkündet: »Krebs heilt Psychoneurosen« –, dass Julius einige Male Studenten nur die psychischen Veränderungen beschrieben und sie dann spitzbübisch aufgefordert hatte zu raten, welche Therapie
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