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Die Schopenhauer-Kur

Die Schopenhauer-Kur

Titel: Die Schopenhauer-Kur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Irvin D. Yalom
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mit ihr die Kenner! Er stirbt nicht wie die übrigen.« Er sagte voraus, dass sein Genie irgendwann großen Einfluss auf künftige Generationen von Denkern haben würde. Und er behielt Recht; all seine Prophezeiungen haben sich bewahrheitet. Ref 121

»Vom Standpunkte der Jugend aus gesehn, ist das Leben
eine unendlich lange Zukunft, vom Standpunkt des Alters
aus, eine sehr kurze Vergangenheit; so daß es anfangs sich
uns darstellt wie die Dinge, wann wir das Objektivglas des
Opernguckers ans Auge legen, zuletzt aber, wie wann das
Okular.« Ref 122
34
    Je schneller die Zeit raste, desto mehr freute sich Julius auf die wöchentlichen Gruppensitzungen. Vielleicht waren seine Erfahrungen in der Gruppe eindringlicher, weil die Wochen seines »einen guten Jahres« knapp wurden. Aber es waren nicht nur die Ereignisse in der Gruppe; alles in seinem Leben, groß und klein, erschien zarter und plastischer. Natürlich waren seine Wochen stets gezählt gewesen, doch die Zahlen waren ihm so groß vorgekommen – als ob sie sich in eine ewige Zukunft erstreckten –, dass er sich nie mit ihrer Endlichkeit konfrontiert hatte.
    Wenn ein Ende in Sicht ist, treten wir auf die Bremse. Als Leser durchfliegen wir die tausend Seiten der Brüder Karamasow, bis nur noch ein Dutzend übrig sind, dann verringern wir plötzlich das Tempo, genießen jeden Abschnitt gemächlich, saugen den Nektar aus jedem Satz, jedem Wort. Die Knappheit seiner Tage veranlasste Julius, die Zeit hochzuschätzen; immer mehr verfiel er in eine erstaunte Betrachtung des wundersamen Flusses alltäglicher Geschehnisse.
    Vor kurzem hatte er den Aufsatz eines Entomologen gelesen, der den Kosmos eines auf einen Quadratmeter begrenzten
Flecks Erde erforschte. Er beschrieb, wie ihn beim Graben ein Gefühl der Ehrfurcht vor dieser dynamischen Welt überkam, in der es von Raubtieren und ihren Opfern wimmelte, von Fadenwürmern, Tausendfüßlern, Maden, gepanzerten Käfern und Spinnentieren. Stimmt die Perspektive und ist man voller Aufmerksamkeit und mit ausreichendem Wissen versorgt, dringt man in einen dauernden Zustand der Verwunderung in die Alltäglichkeit ein.
    So war es für Julius in der Gruppe. Seine Angst vor einem Wiederauftreten seines Melanoms war zurückgegangen, und seine Panikattacken wurden seltener. Vielleicht rührte sein größeres Wohlbefinden daher, dass er die Aussage seines Arztes bezüglich des »einen guten Jahres« zu wörtlich nahm, fast als Garantie. Wahrscheinlicher war jedoch, dass seine Lebensweise beruhigend wirkte. Zarathustras Weg folgend, hatte er seine Einsichten geteilt, sich selbst transzendiert, indem er auf andere zugegangen war, und ein Leben geführt, das er bereitwillig bis in alle Ewigkeit wiederholt hätte.
    Er war immer neugierig geblieben, was die Richtung betraf, die Therapiegruppen einschlagen würden. Nun, da sein letztes gutes Jahr spürbar schrumpfte, waren alle Gefühle noch intensiver : Seine Neugier hatte sich zu einer kindlich ungeduldigen Vorfreude auf das nächste Treffen gesteigert. Er erinnerte sich an Studienanfänger von ihm, die er vor Jahren in Gruppentherapie unterrichtete und die sich über Langeweile beklagten, wenn sie anderthalb Stunden lang sprechende Köpfe sahen. Später, als sie gelernt hatten, dem Lebensdrama jedes einzelnen Patienten zu lauschen und die äußerst komplexen Interaktionen zwischen den Mitgliedern zu würdigen, verflüchtigte sich die Langeweile, und alle Studenten waren pünktlich zur Stelle, weil sie so gespannt darauf waren, wie es weitergehen würde.
    Das drohende Ende der Gruppe trieb ihre Mitglieder an, ihre drängendsten Probleme mit wachsendem Eifer anzugehen. Das war normalerweise immer der Fall und ein Grund dafür,
dass Pioniere wie Otto Rank und Carl Rogers oft gleich zu Beginn der Therapie einen Schlusstermin festsetzten.
    Stuart bemühte sich in den letzen Monaten mehr als in den vergangenen drei Jahren seiner Therapie. Vielleicht hatte Philip ihm Starthilfe gegeben, indem er ihm als Spiegel diente. Stuart erkannte Teile von sich in Philips Misanthropie wieder, und ihm war klar, dass bis auf sie beide alle Gruppenmitglieder Freude an den Treffen hatten und die Gruppe als Zuflucht betrachteten, als einen Ort, wo sie Unterstützung und Fürsorge erfuhren. Nur er und Philip nahmen zwangsweise teil – Philip, um Julius als Supervisor zu gewinnen, und er wegen des Ultimatums seiner Frau.
    Bei einer Sitzung bemerkte Pam, dass die Gruppe nie einen richtigen Kreis bildete,

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