Die Schopenhauer-Kur
befriedigend diese weit reichenden Veränderungen auch sein mochten, Julius’ Aufmerksamkeit blieb in erster Linie auf Philip und Pam konzentriert. Warum ihre Beziehung so wichtig für ihn geworden war, wusste er nicht, obgleich er überzeugt war, dass die Gründe dafür über den besonderen Fall hinausgingen. Manchmal fiel ihm, wenn er an die beiden dachte, der Talmud-Spruch »Einen Menschen zu retten heißt, die ganze Welt zu retten« ein. Ihre Beziehung ins Lot zu bringen, erschien ihm immer bedeutsamer. Eigentlich wurde sie sogar zu seinem raison d’être : Es war, als könnte er sein eigenes Leben dadurch retten, dass er aus den Trümmern jener schrecklichen Begegnung vor Jahren etwas Wertvolles barg. Während er noch über den Talmud-Spruch nachsann,
kam ihm Carlos in den Sinn. Mit ihm, einem jungen Mann, hatte er vor ein paar Jahren gearbeitet. Nein, es musste länger her sein, mindestens zehn Jahre, denn er erinnerte sich, dass er mit Miriam über Carlos geredet hatte. Carlos war ein besonders unsympathischer Mensch gewesen, derb, egozentrisch, sexuell getrieben, der seine Hilfe suchte, als man bei ihm ein tödliches Lymphom diagnostizierte. Julius half Carlos bei einigen beachtlichen Veränderungen, vor allem auf dem Gebiet der Verbundenheit mit anderen, und diese Veränderungen erlaubten ihm, seinem ganzen Leben im Nachhinein einen Sinn zu geben. Stunden vor seinem Tod sagte er zu Julius: »Danke dafür, dass Sie mir das Leben gerettet haben.« Julius hatte oft an Carlos gedacht, aber in dieser Situation nahm seine Geschichte eine neue und ungeheure Bedeutung an – nicht nur, was Philip und Pam, sondern auch die Rettung seines eigenen Lebens betraf.
Größtenteils wirkte Philip in der Gruppe jetzt weniger aufgeblasen und zugänglicher, er stellte mit den meisten Mitgliedern bis auf Pam sogar Blickkontakt her. Nachdem sechs Monate verstrichen waren, war keine Rede davon, dass er aussteigen würde, weil er seinen Halbjahresvertrag erfüllt hatte. Als Julius das Thema zur Sprache brachte, erwiderte Philip: »Überraschenderweise ist die Gruppentherapie ein weitaus komplexeres Phänomen, als ich ursprünglich gedacht hatte. Am liebsten wäre es mir, wenn Sie meine Arbeit mit Klienten supervisieren würden und ich gleichzeitig weiter an der Gruppe teilnähme, aber diese Idee haben Sie ja wegen des Problems von ›Doppelbeziehungen‹ verworfen. Deshalb entscheide ich mich dafür, das ganze Jahr in der Gruppe zu bleiben und Sie danach um Supervision zu bitten.«
»Das soll mir recht sein«, stimmte Julius zu, »doch das hängt natürlich von meinem Gesundheitszustand ab. Die Gruppe tagt noch vier Monate, anschließend müssen wir sehen. Die Garantie für meine Gesundheit galt nur für ein Jahr.«
Philips Sinneswandel war nicht ungewöhnlich. Oft treten
Patienten mit einem eng begrenzten Ziel in eine Gruppe ein, zum Beispiel, um besser schlafen zu können, keine Albträume mehr zu haben oder eine Phobie zu überwinden. Nach wenigen Monaten formulieren sie dann häufig andere, weitreichendere Ziele, etwa das Erlangen von Liebesfähigkeit, das Wiederfinden ihrer Freude am Leben, die Überwindung von Einsamkeit, die Entwicklung von Selbstwertgefühl.
Ab und zu drängte die Gruppe Philip, genauer zu beschreiben, wie Schopenhauer ihm so sehr hatte helfen können, nachdem Julius mit seiner Psychotherapie gescheitert war. Da er Schwierigkeiten hatte, Fragen über Schopenhauer zu beantworten, ohne die notwendigen philosophischen Hintergrundinformationen zu liefern, bat er die Gruppe, einen dreißigminütigen Vortrag zu dem Thema halten zu dürfen. Die Gruppe stöhnte, und Julius forderte ihn auf, das relevante Material bündiger und umgangssprachlicher zu präsentieren.
In der nächsten Sitzung kündigte Philip einen kurzen Vortrag an, der, so versprach er, die Frage, wie Schopenhauer ihm geholfen hatte, in knapper Form beantworten würde.
Obgleich er Notizen in der Hand hatte, sprach er, ohne sich auf sie zu beziehen. An die Decke starrend, begann er: »Es ist unmöglich, Schopenhauer zu erörtern, ohne mit Kant anzufangen, dem Philosophen, den er neben Platon respektierte wie keinen anderen. Kant, der 1804 starb, als Schopenhauer sechzehn war, revolutionierte die Philosophie durch die Einsicht, dass es uns nicht möglich ist, Realität wirklich zu erfahren, da all unsere Wahrnehmungen, die Daten, die uns unsere Sinne liefern, durch das uns eigene neuroanatomische System gefiltert werden. Sämtliche
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