Die Schopenhauer-Kur
nervös, fühlte sich unwohl in seiner Haut. Er spürte, dass er in Gefahr war, sich zu verlieren. Warum hatte er zu Pam gesagt, sie habe Pech gehabt, als sie ihn kennen lernte? Hatte sie deshalb heute seinen Namen so oft genannt – und verlangt, dass er sie anschaute? Sein früheres verderbtes Selbst umschwebte ihn wie ein Gespenst. Er spürte seine Gegenwart und seinen Durst nach Leben. Philip brachte seinen Geist zur Ruhe und ließ sich in eine Meditation im Gehen gleiten.
»An das gelehrte und philosphirende Deutschland.... Euch ist ein
Windbeutel wie Fichte das Gleiche wie der größte Denker aller
Zeiten, Kant, und ein nichtswürdiger, plumper Scharlatan wie Hegel
gilt euch für einen tiefen Denker. Für euch habe ich nicht
geschrieben.« Ref 115
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Leiden, Zorn, Beharrlichkeit
Wenn Arthur Schopenhauer heute leben würde, wäre er dann ein Kandidat für die Psychotherapie? Absolut! Er hatte alle möglichen Symptome. In »Über mich« klagt er, die Natur habe ihn mit einem Hang zur Ängstlichkeit ausgestattet und mit »Argwohn, Reizbarkeit, Heftigkeit und Stolz in einem mit der mens aequa des Philosophen fast unvereinbaren Maaße«. Ref 116
In plastischer Sprache schildert er seine Beschwerden.
»Vom Vater angeerbt ist mir die von mir selbst verwünschte und . . . mit dem ganzen Aufwande meiner Willenskraft bekämpfte Angst... Als Jüngling quälten mich eingebildete Krankheiten . . . Während ich in Berlin studirte, hielt ich mich eine Zeit lang für auszehrend . . . mich verfolgte die Furcht zum Kriegsdienst gepreßt zu werden . . . Aus Neapel vertrieb mich die Angst vor den Blattern, aus Berlin die Cholera. In Verona ergriff mich die fixe Idee vergifteten Schnupftabak genommen zu haben . . . (in Mannheim) überkam mich ohne alle äußere Veranlassung ein unsägliches Angstgefühl. Jahrelang verfolgte
mich die Furcht vor einem Criminalprocesse ... Entstand in der Nacht Lärm, so fuhr ich aus dem Bette auf und griff nach Degen und Pistole, die ich beständig geladen hatte . . . (Ich) trage . . . eine fortwährende innere Sorglichkeit in mir, die mich Gefahren sehen und suchen läßt, wo keine sind. Sie vergrößern mir die kleinste Widerwärtigkeit ins Unendliche und erschwert mir vollends den Verkehr mit den Menschen.« Ref 117
In der Hoffnung, seinen Argwohn und seine chronische Angst zu bezwingen, griff er zu einer Reihe von Vorsichtsmaßnahmen und Ritualen: Er versteckte seine Goldmünzen und zinsbringenden Wertpapiere für Notfälle in alten Briefen und an anderen geheimen Orten, er legte persönliche Notizen unter falschen Ordnungsbegriffen ab, er war extrem reinlich, er verlangte, stets von demselben Bankangestellten bedient zu werden, er gestattete niemandem, seine Buddha-Statue anzufassen.
Sein Geschlechtstrieb war zu stark, um sich beschwichtigen zu lassen, und selbst als junger Mann bedauerte er, dass seine animalischen Leidenschaften ihn beherrschten. Im Alter von sechsunddreißig fesselte ihn eine mysteriöse Krankheit ein ganzes Jahr lang an sein Zimmer. 1906 deutete ein Arzt und Medizinhistoriker an, diese Krankheit müsse die Syphilis gewesen sein, eine Diagnose, die auf der Art der verschriebenen Medikamente und Schopenhauers bekanntermaßen ungewöhnlich hohen sexuellen Aktivität basierte.
Arthur sehnte sich danach, aus den Klauen der Sexualität befreit zu werden. Er kostete die Momente heiterer Gelassenheit aus, in denen er fähig war, die Welt trotz der Lust, die sein körperliches Selbst quälte, in aller Ruhe zu beobachten. Er verglich die geschlechtliche Leidenschaft mit dem Tageslicht, das die Sterne unsichtbar mache. Als er älter wurde, begrüßte er das Schwächerwerden des Sexualtriebs und die damit einhergehende Gemütsruhe.
Da seine größte Passion seine Arbeit war, galt seine stärkste
und hartnäckigste Furcht dem Verlust der finanziellen Mittel, die es ihm ermöglichten, das Leben eines Denkers zu führen. Bis ins hohe Alter segnete er das Andenken seines Vaters, der ihm diese Mittel vererbt hatte, und verbrachte viel Zeit und Energie damit, sein Geld zu hüten und seine Investitionen zu erwägen. Entsprechend erschrocken reagierte er auf jede Unruhe, die seine Anlagen bedrohte, und wurde politisch ultrakonservativ. Die Revolte von 1848, die über Deutschland wie über das restliche Europa hinwegfegte, entsetzte ihn. Als Soldaten seine Wohnung betraten, um einen günstigen Standpunkt zu finden, von dem aus sie auf die aufständische Bevölkerung auf der Straße
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