Die Schopenhauer-Kur
denn Stuarts Sessel stand unweigerlich ein Stück weiter außen, manchmal nur einige Zentimeter, aber bedeutsame Zentimeter. Andere stimmten zu: Auch sie waren sich der Asymmetrie bewusst gewesen, hatten sie jedoch nie mit Stuarts Scheu vor Nähe in Verbindung gebracht.
Während eines anderen Treffens ließ Stuart ein vertrautes Klagelied ertönen und schilderte die Fixierung seiner Frau auf ihren Vater, einen Mediziner, der vom Chefarzt einer chirurgischen Abteilung zum Dekan einer medizinischen Fakultät und dann zum Universitätspräsidenten aufgestiegen war. Als Stuart wie so oft immer weiter erörterte, wie unmöglich es war, die Achtung seiner Frau zu erlangen, weil sie ihn ständig mit ihrem Vater verglich, unterbrach Julius ihn und wollte wissen, ob ihm klar sei, dass er diese Geschichte zum wiederholten Mal erzähle.
Nachdem Stuart erwidert hatte: »Aber wir sollen doch Probleme zur Sprache bringen, die nach wie vor lästig sind, oder?«, stellte Julius eine entscheidende Frage: »Was glauben Sie, wie wir uns bei dieser Wiederholung fühlen?«
»Ich nehme an, Sie finden sie ermüdend oder langweilig.«
»Denken Sie darüber nach, Stuart. Was haben Sie davon, ermüdend oder langweilig zu sein? Und dann denken Sie darüber
nach, warum Sie sich nie in Ihre Zuhörer hineinversetzt haben.«
Stuart dachte im Lauf der nächsten Woche tatsächlich ausgiebig nach und berichtete dann, dass er erstaunt darüber war, wie wenig er dieser Frage jemals Beachtung geschenkt hatte. »Ich weiß, dass mich meine Frau oft langweilig findet; ihre Lieblingsbezeichnung für mich ist abwesend, und ich vermute, die Gruppe will mir dasselbe sagen. Wissen Sie, ich glaube, ich habe mein Einfühlungsvermögen irgendwo ganz tief vergraben.«
Wenig später präsentierte ihnen Stuart ein zentrales Problem : seine anhaltende, unerklärliche Wut auf seinen zwölfjährigen Sohn. Tony öffnete die Büchse der Pandora, indem er fragte: »Wie waren Sie, als Sie so alt waren wie Ihr Sohn?«
Stuart schilderte ein Aufwachsen in Armut; sein Vater war gestorben, als er acht war, und seine Mutter, die zwei Jobs hatte, war nie zu Hause, wenn er aus der Schule kam. Also war er ein Schlüsselkind gewesen, hatte sich selbst das Essen zubereitet und Tag um Tag dieselben schmutzigen Sachen getragen, wenn er zur Schule ging. Lange Zeit war es ihm gelungen, die Erinnerung an seine Kindheit zu verdrängen, doch die Anwesenheit seines Sohnes trieb ihn zurück in längst vergessene Schrecken.
»Meinen Sohn dafür verantwortlich zu machen, ist verrückt«, sagte er, »aber ich empfinde einfach immer wieder Neid und Groll, wenn ich sein privilegiertes Leben sehe.« Es war Tony, der half, Stuarts Zorn mit einer wirkungsvollen Umdeutung zu knacken: »Wie wär’s, wenn Sie mal stolz darauf wären, dass Sie Ihrem Sohn dieses bessere Leben bieten?«
Fast jeder machte Fortschritte. Julius hatte das schon früher erlebt; wenn Gruppen einen bestimmten Zustand der Reife erreichen, scheint es, als ob es allen Mitgliedern gleichzeitig besser geht. Bonnie bemühte sich, mit einem zentralen Paradox fertig zu werden: der Wut auf ihren Ex-Ehemann, weil er sie verlassen hatte, und ihrer Erleichterung darüber, dass sie von
einer Beziehung mit einem Mann befreit war, gegen den ihre Abneigung so groß war.
Gill ging täglich zu einem AA-Treffen – siebzig Treffen in siebzig Tagen –, doch seine Eheprobleme nahmen mit seiner Enthaltsamkeit zu statt ab. Das war für Julius allerdings nicht verwunderlich: Wenn ein Partner dank der Therapie Fortschritte macht, gerät das Gleichgewicht in der ehelichen Beziehung durcheinander, und wenn sie bestehen bleiben soll, muss der andere Partner sich ebenfalls verändern. Gill und Rose hatten mit einer Paartherapie angefangen, aber Gill war nicht davon überzeugt, dass Rose sich ändern konnte. Er fürchtete sich jedoch nicht mehr bei dem Gedanken an ein Ende seiner Ehe; zum ersten Mal verstand er eines von Julius Lieblingsbonmots wirklich: »Man kann seine Ehe nur retten, wenn man bereit (und imstande) ist, sie aufzugeben.«
Tony arbeitete mit erstaunlicher Geschwindigkeit an sich – als ob Julius’ sich erschöpfende Kraft direkt auf ihn überginge. Ermutigt von Pam und mit Unterstützung aller anderen in der Gruppe beschloss er, sich nicht mehr darüber zu beklagen, wie unwissend er sei, sondern stattdessen etwas dagegen zu unternehmen – und schrieb sich in drei Abendkursen des örtlichen College ein.
Wie spannend und
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