Die Schopenhauer-Kur
Vergrößerungsglas entgegen.
Pam nahm es und beugte sich vor, um Vijays Anhänger zu betrachten. Sie atmete seinen Duft nach Zimt und Kardamom und frisch gebügelter Baumwolle ein. Wie war es möglich, dass er in diesem stickigen, verstaubten Zugabteil so angenehm und frisch roch? »Er hat nur einen Stoßzahn«, bemerkte sie.
»Das bedeutet: Bewahr das Gute, vergiss das Schlechte.«
»Und was hält er da? Eine Axt?«
»Um alle festen Bindungen zu kappen.«
»Das klingt nach buddhistischer Lehre.«
»Ja, vergessen Sie nicht, dass der Buddha dem mütterlichen Ozean Shivas entstammt.«
»Und in der anderen Hand hält Ganesha auch etwas. Es ist schwer zu erkennen. Eine Schnur?«
»Ein Seil, mit dem man die höchsten Ziele erklimmen kann.«
Plötzlich ging ein Ruck durch den Zug, und er begann, sich vorwärtszubewegen.
»Unser Fahrzeug ist wieder zum Leben erwacht«, sagte Vijay.
»Schauen Sie sich Ganeshas Gefährten an – da, unter seinem Fuß.«
Pam rückte näher, um durch die Lupe zu spähen und diskret Vijays Duft einzuatmen. »Ach ja, die Maus. Sie ist an jeder Statue und auf jedem Bild von Ganesha zu sehen. Mir war nie klar, warum.«
»Sie ist das interessanteste Attribut von allen. Die Maus bedeutet Verlangen. Man darf sich von ihm bewegen lassen, aber nur, wenn man es unter Kontrolle hat. Sonst richtet es verheerenden Schaden an.«
Pam verfiel in Schweigen. Während der Zug an struppigen Bäumen, vereinzelten Tempeln, Wasserbüffeln in schlammigen Tümpeln und Gehöften, deren roter Erdboden von Tausenden Jahren Bearbeitung ausgelaugt war, entlangtuckerte, schaute sie Vijay an und wurde von einer Welle der Dankbarkeit überschwemmt. Wie unaufdringlich, wie behutsam er seinen Anhänger hervorgeholt und ihr die Peinlichkeit erspart hatte, sich respektlos über seine Religion zu äußern. Wann hatte ihr ein Mann jemals so viel Rücksicht entgegengebracht? Aber nein, rief sie sich ins Gedächtnis, es gibt auch andere liebenswerte Männer. Sie dachte an ihre Gruppe. Da war Tony, der alles für sie tun würde. Und auch Stuart konnte generös sein. Und Julius, dessen Liebe endlos zu sein schien. Aber Vijays Feingefühl – das war außergewöhnlich, das war exotisch.
Und Vijay? Er verfiel ebenfalls in einen Tagtraum, in dem er sein Gespräch mit Pam Revue passieren ließ. Ungewöhnlich erregt, mit rasendem Herzen, versuchte er, sich zu beruhigen. Er öffnete seinen Lederbeutel, zog eine alte, zerknitterte Zigarettenschachtel heraus, nicht um zu rauchen – die Schachtel war leer, und außerdem hatte er gehört, wie sehr sich die Amerikaner wegen des Rauchens anstellten. Er wollte bloß die blau-weiße Packung studieren, auf der die Silhouette eines Mannes mit Zylinder und in dicken schwarzen Lettern der Markenname, The Passing Show, Das vorüberziehende Schauspiel, zu sehen waren.
Einer seiner ersten religiösen Lehrmeister hatte seine Aufmerksamkeit auf die Passing Show gelenkt, eine Zigarettenmarke, die sein Vater rauchte, und ihn angewiesen, seine Meditationen damit zu beginnen, dass er sich das ganze Leben als vorüberziehendes Schauspiel vorstellte, als einen Strom, der alle Objekte, jede Erfahrung, alle Wünsche an ihm, der unbeirrbar achtsam an seinem Ufer saß, vorbeitrug. Vijay meditierte zu dem Bild eines dahinrauschenden Flusses und lauschte den lautlosen Worten seines Geistes, anitya, anitya – Unbeständigkeit. Alles ist im Fluss, erinnerte er sich; das ganze Leben mit all seinen Erfahrungen gleitet so sicher und unwiderruflich dahin wie die durch das Zugfenster sichtbare Landschaft. Er schloss die Augen, atmete tief und lehnte seinen Kopf an den Sitz; sein Puls verlangsamte sich, als ihn der Hafen des Gleichmuts willkommen hieß.
Pam, die Vijay diskret beobachtet hatte, hob die Schachtel auf, die zu Boden gefallen war, las das Etikett und sagte: »The Passing Show – das ist ein unüblicher Name für Zigaretten.«
Vijay öffnete langsam die Augen und erwiderte: »Wie ich schon sagte, wir Inder sind sehr ernsthafte Menschen. Sogar unsere Zigarettenpäckchen sind mit Instruktionen für die richtige Lebensführung versehen. Das Leben ist ein vorüberziehendes Schauspiel – darüber meditiere ich jedes Mal, wenn ich innere Turbulenzen verspüre.«
»War es das, was Sie gerade taten? Ich hätte Sie nicht stören sollen.«
Vijay lächelte und schüttelte sacht den Kopf. »Mein Lehrer sagte einmal, keiner wird jemals von einem anderen gestört. Es ist immer man selbst, der die
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