Die Schopenhauer-Kur
eigene Ruhe stört.« Vijay zögerte, da er merkte, dass er von Verlangen überflutet wurde: Er sehnte sich so sehr nach der Aufmerksamkeit seiner Reisegefährtin, dass er aus seiner Meditationspraxis eine bloße Kuriosität gemacht hatte – und all das für ein Lächeln dieser reizenden Frau, die lediglich eine Erscheinung war, Teil des vorüberziehenden Schauspiels, die bald aus seinem Leben verschwinden
und sich in das Nichts der Vergangenheit auflösen würde. Und obwohl er wusste, dass seine nächsten Worte ihn noch weiter von seinem Weg abbringen würden, stürzte er sich unbesonnen hinein.
»Ich würde Ihnen gern etwas sagen: Ich werde unsere Begegnung und unser Gespräch lange in lieber Erinnerung behalten. Ich werde in Kürze aus diesem Zug steigen und in einen Ashram einkehren, wo ich die nächsten zehn Tage schweigen muss, und ich bin unermesslich dankbar für die Worte, die wir gewechselt, die Augenblicke, die wir miteinander geteilt haben. Es erinnert mich an amerikanische Gefängnisfilme, in denen es dem Verurteilten erlaubt ist, sich zu seiner letzten Mahlzeit alles zu bestellen, was er will. Darf ich Ihnen sagen, dass mir meine Wünsche für ein letztes Gespräch voll und ganz erfüllt wurden?«
Pam nickte nur. Sonst selten um Worte verlegen, wusste sie nicht, was sie auf Vijays Höflichkeit erwidern sollte. »Zehn Tage in einem Ashram? Meinen Sie Igatpuri? Ich bin dorthin unterwegs in ein Meditationszentrum.«
»Dann haben wir denselben Bestimmungsort und dasselbe Ziel – uns von dem ehrenwerten Guru Goenka in der Vipassana-Meditation unterrichten zu lassen. Und das schon bald – es ist die nächste Haltestelle.«
»Sagten Sie ›zehn Tage schweigen‹?«
»Ja, Goenka verlangt stets vornehmes Schweigen – bis auf die notwendigen Erörterungen mit dem Personal sind den Schülern keine Worte gestattet. Haben Sie Erfahrung mit Meditation?«
Pam schüttelte den Kopf. »Ich bin Universitätsdozentin. Ich lehre englische Literatur, und letztes Jahr hatte eine meiner Studentinnen ein Erlebnis in Igatpuri, das sie geheilt und verwandelt hat. Diese Studentin ist seither dabei, in den Vereinigten Staaten Vipassana-Zentren einzurichten, und hilft gegenwärtig, für Goenka eine Amerika-Tournee zu planen.«
»Ihre Studentin hoffte, ihrer Lehrerin ein Geschenk machen
zu können. Wünschte sie sich, dass auch Sie sich einer Verwandlung unterziehen?«
»Na ja, irgendetwas in der Art. Es war nicht so, dass sie das Gefühl hatte, ich müsse etwas Bestimmtes an mir verändern, eher so, dass sie von dem Erlebnis so sehr profitiert hatte, dass sie es gern mit mir und anderen teilen wollte.«
»Natürlich. Meine Frage war falsch formuliert; ich wollte in keiner Weise andeuten, dass Sie sich verändern müssen. Mich hat die Begeisterung Ihrer Studentin interessiert. Hat sie Sie denn irgendwie auf die Erfahrung vorbereitet?«
»Nein, das hat sie absichtlich nicht getan. Sie selbst ist rein zufällig über diesen Ashram gestolpert, und sie meinte, es sei am besten, wenn auch ich mich völlig unvoreingenommen darauf einlassen würde. Sie schütteln den Kopf? Sie sind anderer Ansicht?«
»Oh, vergessen Sie nicht, dass Inder den Kopf schütteln, wenn sie zustimmen, und nicken, wenn sie Einwände haben – das Gegenteil von dem, was in Amerika gebräuchlich ist.«
»Oh mein Gott. Ich glaube, dann habe ich in der Vergangenheit einiges missverstanden. Sicherlich habe ich die Leute verwirrt, mit denen ich gesprochen habe.«
»Nein, nein, viele Inder, die mit Westlern in Kontakt kommen, stellen sich darauf ein. Was den Ratschlag Ihrer Studentin betrifft, weiß ich nicht genau, ob ich auch der Meinung bin, dass Sie völlig unvorbereitet sein sollten. Ich muss Sie darauf hinweisen, dass dies kein Ashram für Anfänger ist. Vornehmes Schweigen, Meditation ab vier Uhr morgens, wenig Schlaf, eine Mahlzeit am Tag. Eine schwierige Prozedur. Sie müssen stark sein. Ah, der Zug wird langsamer. Wir sind in Igatpuri.«
Vijay stand auf, sammelte seine Habseligkeiten ein und hob Pams Koffer aus der Gepäckablage. Der Zug hielt. Vijay bereitete sich aufs Aussteigen vor und sagte: »Das Erlebnis beginnt.«
Seine Worte boten wenig Trost, und Pams Besorgnis wuchs.
»Heißt das, dass wir während unseres Aufenthalts dort nicht miteinander reden dürfen?«
»Keine Kommunikation, nicht schriftlich, nicht in Zeichensprache.«
»Email?«
Vijay lächelte nicht. »Vornehmes Schweigen ist der rechte Weg, um von Vipassana zu
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