Die Schopenhauer-Kur
auf die Uhr. »Die Zeit ist knapp, aber möchten Sie es ansprechen? Es auf die Tagesordnung bringen?«
»Damit ich nächste Woche nicht kneife, meinen Sie?«, fragte Bonnie. »Na ja, das ist keine schlechte Idee. Was ich thematisieren wollte, hat damit zu tun, dass ich reizlos und fett und unbeholfen bin, und Rebecca – und auch Pam – sind so schön und . . . elegant. Aber besonders Sie, Rebecca, lösen eine Menge schmerzlicher Gefühle bei mir aus – Gefühle, die ich schon immer hatte, trampelig, unscheinbar, unbeliebt zu sein.« Bonnie hielt inne und sah Julius an. »Das war’s, es ist draußen.«
»Und für nächste Woche auf der Tagesordnung«, sagte Julius und erhob sich, um das Ende der Sitzung zu signalisieren.
»Daher ist es betrachtungswert, ja wunderbar, wie der
Mensch neben seinem Leben in concreto immer noch ein
zweites in abstracto führt . . . . Hier im Gebiet der ruhigen
Überlegung erscheint ihm kalt, farblos und für den
Augenblick fremd, was ihn dort ganz besitzt und heftig
bewegt: hier ist er bloßer Zuschauer und Beobachter.« Ref 36
15
Pam in Indien (1)
Als der Zug Bombay – Igatpuri langsam in den Bahnhof eines kleinen Dorfes einfuhr, hörte Pam das Rasseln ritueller Zimbeln und spähte durch das rußige Fenster. Ein dunkeläugiger Junge von zehn oder elf rannte, auf ihr Fenster zeigend, nebenher und hielt dabei einen Lappen und einen gelben Wassereimer hoch. Seit sie vor zwei Wochen in Indien angekommen war, hatte Pam alles mit einem Kopfschütteln abgelehnt. Besichtigungstouren, Schuhputzer, frisch gepressten Mandarinensaft, Saristoff, Nike-Turnschuhe, jede Art von Geldumtausch. Sie hatte Bettler und zahlreiche sexuelle Angebote abgewiesen, die manchmal offen, manchmal diskret durch Zwinkern, hochgezogene Augenbrauen, ein Lecken der Lippen oder ein Schnalzen mit der Zunge geäußert wurden. Jetzt endlich, dachte sie, bietet mir jemand etwas an, das ich tatsächlich brauche. Mit einem Nicken stimmte sie dem jungen Fensterputzer zu, der mit einem breiten Grinsen reagierte. Entzückt darüber, dass Pam seine Gönnerin und Zuschauerin war, säuberte er die Scheibe mit langen, theatralischen Schwüngen.
Nachdem sie ihn großzügig entlohnt und dann verscheucht hatte, weil er nicht aufhörte, sie anzustarren, lehnte Pam sich zurück und beobachtete eine Prozession von Dorfbewohnern, die sich im Gefolge eines Priesters, der in bauschige scharlachrote Hosen und ein gelbes Umhängetuch gekleidet war, eine staubige Straße entlang ihren Weg bahnten. Ihr Ziel war die Mitte des Dorfplatzes mit einem großen Pappmachéstandbild des Gottes Ganesha, eine gedrungene, rundliche, buddha-artige Figur mit dem Kopf eines Elefanten. Alle – der Priester, die Männer in ihrem strahlenden Weiß und die Frauen in ihren safrangelben und tiefroten Gewändern – trugen kleine Ganesha-Statuen. Junge Mädchen streuten Blumen, und halbwüchsige Knaben hielten jeweils zu zweit Stangen mit metallenen Brennern in der Hand, die Wolken von Weihrauch verströmten. Inmitten von Zimbelgeklapper und Trommelwirbeln ertönte Gesang: »Ganapathi bappa Moraya, Purchya varshi laukariya.«
»Verzeihung, können Sie mir sagen, was sie da singen?« Pam wandte sich dem Mann mit der kupferbraunen Haut zu, der ihr gegenübersaß und Tee trank, der einzige Passagier, der im selben Abteil reiste wie sie. Er war zierlich und von gewinnendem Äußeren und in ein lockeres weißes Hemd und ebensolche Hosen gekleidet. Beim Klang von Pams Stimme verschluckte er sich und hustete heftig. Ihre Frage entzückte ihn, da er seit der Abfahrt des Zuges in Bombay vergeblich versucht hatte, mit der gut aussehenden Frau ihm gegenüber ins Gespräch zu kommen. Nach einem letzten kraftvollen Husten erwiderte er mit dünner Stimme: »Entschuldigen Sie, Madam. Die Physiologie steht einem nicht immer zu Gebote. Was die Menschen heute hier und in ganz Indien sagen, ist: ›Geliebter Ganapati, Herr von Moraya, komm nächstes Jahr zeitig wieder.‹«
»Ganapati?«
»Ja, sehr verwirrend, ich weiß. Vielleicht kennen Sie ihn unter seinem gebräuchlicheren Namen Ganesha. Er hat noch viele andere Namen, Vighnesvara zum Beispiel, Vinayaka, Gajanana.«
»Und dieser Umzug?«
»Ist der Beginn des zehntägigen Ganesha-Festes. Vielleicht haben Sie ja das Glück, nächste Woche zum Abschluss der Feiertage in Bombay zu sein und mitzuerleben, wie die gesamte Bevölkerung in den Fluss steigt und ihre Ganesha-Statuen in die Wellen taucht.«
»Oh, und was
Weitere Kostenlose Bücher