Die Schopenhauer-Kur
ist das? Ein Mond? Eine Sonne?« Pam deutete auf vier Kinder, die eine große gelbe Kugel aus Pappmaché trugen.
Vijay schnurrte innerlich. Er begrüßte ihre Fragen und hoffte, dass der Zug noch länger verweilen würde, auf dass dieses Gespräch lange fortgesetzt werden konnte. Derart aufreizende Frauen waren in amerikanischen Filmen üblich, doch er hatte noch nie das Glück gehabt, mit einer zu reden. Ihre Anmut und blasse Schönheit regten seine Fantasie an. Sie schien geradewegs aus einer der uralten erotischen Illustrationen des Kamasutra herausgetreten zu sein. Wohin diese Begegnung wohl führen mochte?, fragte er sich. Konnte sie das sein Leben verändernde Ereignis sein, nach dem er schon so lange suchte? Er war unabhängig; seine Textilfabrik hatte ihn nach indischen Maßstäben reich gemacht. Seine junge Verlobte war vor zwei Jahren an Tuberkulose gestorben, und bis seine Eltern eine neue Braut für ihn gewählt hatten, war er ungebunden.
»Ach, das ist der Mond, den die Kinder da tragen, und zwar zu Ehren einer alten Legende. Zunächst müssen Sie wissen, dass der Gott Ganesha für seinen Appetit bekannt war. Sehen Sie nur seinen üppigen Bauch. Einmal war er zu einem Festmahl geladen und stopfte sich zum Nachtisch mit süßen Teilchen voll, die Laddoos heißen. Haben Sie schon mal Laddoos gegessen?«
Pam schüttelte den Kopf und fürchtete, er würde gleich welche aus seinem Gepäck holen. Eine gute Freundin von ihr hatte sich in einer indischen Teestube Hepatitis zugezogen, und bisher hatte Pam den Rat ihres Arztes befolgt, keine Speisen zu sich zu nehmen, die nicht in Vier-Sterne-Hotels aufgetischt
wurden. Wenn sie sich nicht im Hotel aufhielt, beschränkte sie sich auf Lebensmittel, die sie schälen konnte - hauptsächlich Mandarinen, hart gekochte Eier und Erdnüsse.
»Meine Mutter macht wundervolle Kokos-Mandel-Laddoos«, fuhr Vijay fort. »Im Wesentlichen sind es frittierte Mehlbällchen, die mit Kardamomsirup serviert werden – das klingt prosaisch, aber Sie müssen mir glauben, dass sie weitaus besser sind als die Summe ihrer Zutaten. Aber zurück zu Ganesha, der so voll gestopft war, dass er nicht mehr richtig stehen konnte. Er verlor das Gleichgewicht, fiel hin, sein Magen platzte, und alle Laddoos purzelten heraus. Dies alles ereignete sich nachts, mit nur einem einzigen Zeugen, dem Mond, der den Vorfall zum Schreien komisch fand. Wütend verfluchte Ganesha ihn und verbannte ihn aus dem Universum. Die ganze Welt beklagte jedoch die Abwesenheit des Mondes, und eine Abordnung von Göttern bat Shiva, Ganeshas Vater, seinen Sohn zum Nachgeben zu überreden. Überdies entschuldigte sich der reuige Mond für sein schlechtes Benehmen. Schließlich modifizierte Ganesha seinen Fluch und verkündete, der Mond müsse nur einen Tag im Monat unsichtbar sein, den Rest des Monats dürfe er sich teilweise zeigen und an einem Tag in voller Pracht.«
Ein kurzes Schweigen folgte, dann fügte Vijay hinzu: »Jetzt wissen Sie, warum der Mond bei Ganesha-Festen eine Rolle spielt.«
»Vielen Dank für die Erläuterung.«
»Ich heiße Vijay, Vijay Pande.«
»Und ich Pam, Pam Swanvil. Was für eine herrliche Geschichte, und was für ein absurder, drolliger Gott – dieser Elefantenkopf mit dem Buddha-Körper. Und trotzdem scheinen die Dorfbewohner ihre Mythen sehr ernst zu nehmen . . . als ob sie wirklich –«
»Es ist interessant, die Ikonografie von Ganesha in Augenschein zu nehmen«, unterbrach Vijay sie sanft, während er unter seinem Hemd einen großen Anhänger hervorzog, auf
den das Bild von Ganesha graviert war. »Bitte achten Sie darauf, dass jedes ihrer Merkmale eine wichtige Bedeutung hat, eine Instruktion fürs Leben ist. Der riesige Elefantenkopf sagt uns zum Beispiel, wir sollten großzügig denken. Und die großen Ohren? Besser zuhören. Die kleinen Augen ermahnen uns zur Konzentration und der kleine Mund, weniger zu reden. Und ich vergesse Ganeshas Anweisungen nicht – selbst in diesem Moment, in dem ich mit Ihnen spreche, erinnere ich mich an seinen Rat, nicht zu viel zu reden. Sie müssen mir helfen, indem Sie mir Bescheid sagen, wenn ich Ihnen mehr erzähle, als Sie wissen wollen.«
»Aber nein, mich interessieren Ihre Kommentare zu den ikonografischen Merkmalen sehr.«
»Es gibt noch viele andere. Hier, schauen Sie genauer hin – wir Inder sind sehr ernsthafte Menschen.« Er griff in den Lederbeutel, den er über der Schulter trug, und streckte ihr ein kleines
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