Die schottische Braut
unendlich lang. “Sechs Wochen!”, jammerte sie. “Ich kann nicht hier herumsitzen, wenn Roderick Douglas mich in Chatham erwartet. Gibt es kein anderes Boot?”
Gerade als sie fragte, schauderte sie bei dem Gedanken an eine neuerliche Seereise. Ihre Erfahrungen mit den Gefahren der Seefahrt waren ausreichend, dass sie bis an ihr Lebensende reichten. Doch wie ein Blitz durchzuckte Jenny die Einsicht, dass eine weitaus größere Gefahr für ihren Traum in der Aussicht zu liegen schien, noch weitere sechs Wochen mit Harris Chisholm zu verbringen.
“Vielleicht.” Harris zuckte die Schultern. “Oder vielleicht auch nicht. Mr Jardine meinte, wir sollten nicht damit rechnen. Warum hast du es so eilig? Nach allem, was du in jener Nacht sagtest, dachte ich, dass du Zweifel an dieser Vermählung hast.”
Jenny wandte sich ihm zu. “Ich habe nichts dergleichen geäußert, Harris Chisholm, und ich wäre dir dankbar, wenn du mir keine Worte in den Mund legen würdest. Wenn ich irgendetwas gesagt habe, dann geschah dies nur aus Angst und vor Kälte, denn aus Furcht, wir könnten sterben, hätte ich beinahe den Verstand verloren.”
Jenny war so wild entschlossen gewesen, ihrem ungestümen Einwand Luft zu machen, dass sie die Wurzel nicht gesehen hatte, die vor ihr auf dem Pfad aus der Erde wuchs. Sie stolperte, die Arme wirbelten nach Halt suchend durch die Luft, ohne dass sie das Gleichgewicht wiederfand. Harris versuchte, sie zu fassen, doch mit dem Erfolg, dass er ihren Sturz nur dämpfen konnte. Gemeinsam landeten sie auf einem Lager aus Moos und Farnen.
Der kraftvolle Wohlgeruch des Waldes überwältigte Jenny ebenso wie die beunruhigende Reaktion ihres Körpers auf die Berührung von Harris. Ihr Herz schlug heftig, und ihr Atem ging in kurzen, scharfen Zügen. Sie fühlte sich wie benommen. Eine beunruhigende, doch nicht unwillkommene Wärme durchflutete sie.
Sein Arm lag schwer auf ihren Brüsten. Sein Schenkel drückte sanft, doch nicht weniger berauschend gegen den ihren. Seine Wange lag an der ihren. All diese Berührungen erweckten ein Verlangen in ihr, das sie nicht wollte. Am wenigsten von diesem Mann, wenn sie einem anderen versprochen war.
Doch ihr Körper sehnte sich danach, dazuliegen und sich in noch vertraulicherer Art an Harris zu pressen. Aber Jennys tief verwurzelte praktische Denkweise gewann die Oberhand.
Diesmal.
“Lass mich los, Harris!” Wie eine Wildkatze sprang sie auf und begann, sich die Halme aus dem Haar zu zupfen.
Sein Gesicht war rot vor Zorn, als Harris auf die Beine kam. “Ich wollte dich davor bewahren, mit dem Kopf auf den Erdboden aufzuschlagen, und was ist der Dank dafür?” Er wandte ihr den Rücken zu und wischte seine Weste und die Breeches ab.
Ich wollte dich davor bewahren.
Wie oft war Harris zu ihrer Rettung erschienen, nur um dafür mit Beleidigung und Undankbarkeit abgefertigt zu werden? Er hatte ihr in der Nacht des Schiffbruchs das Leben gerettet, und sie hatte nicht mehr getan, als es zur Kenntnis zu nehmen. Wenn er auch annahm, dass sie nichts für ihn empfand, so wusste Jenny doch, dass dies keineswegs der Fall war. Und sie fürchtete sich, noch mehr für ihn zu empfinden.
“Oh Harris, es tut mir leid.” Obwohl sie die darin verborgene Gefahr erkannte, konnte Jenny nicht an sich halten und berührte ihn. “Du hast mich vor Schlimmerem bewahrt als nur vor einem kleinen Sturz, und ich habe nicht ein Wort des Dankes gesagt.”
Unter ihrer Berührung zuckte Harris zurück, als hätte er sich verbrannt. “Ich habe mein Wort gegeben, dich sicher nach Miramichi zu bringen.”
“Und du bist ein Mann, der sein Wort hält.” Das und noch viel mehr.
Harris, der auf ihre Bemerkung nichts erwiderte, ging in Richtung Glendenning Farm, wo der Klang einer Glocke die Familie zum Mittagsmahl rief.
Jenny zögerte einen Augenblick, um sich die unerklärlichen Tränen fortzuwischen, die ihr in die Augen gestiegen waren. Warum verbitterte es sie, dass Harris’ Sorge nur der Erfüllung seines gegebenen Ehrenwortes galt? Bestimmt wollte sie ihn nicht von anderen zärtlichen Gefühlen geleitet sehen.
Oder doch?
8. KAPITEL
Verbissen konzentrierte sich Harris auf die Zahlenkolonnen. Robert Jardine hatte nicht übertrieben, als er behauptete, die Buchführung des Unternehmens sei in Unordnung. Obwohl Harris noch keiner Stellung bei den Brüdern Jardine zugestimmt hatte, war er bereit gewesen, einen Blick in die Bücher zu werfen. Es war das Geringste, was er tun
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