Die Schriften von Accra (German Edition)
Abwechslung ein Gedicht schreiben, statt mir Dinge zu notieren, die ich nichtvergessen darf. Auch wenn ich dies nie zuvor getan habe und es vielleicht nie wieder tun werde, so habe ich jetzt doch einmal den Mut, meine Gefühle in Worte zu kleiden.
Wenn ich in ein Dorf komme, das ich bereits kenne, werde ich es auf einem anderen Weg betreten als sonst. Ich werde lächeln, doch die Dorfbewohner werden untereinander sagen: ›Er ist verrückt. Warum kommt er hierher? Krieg und die Zerstörung haben unser Ackerland unfruchtbar gemacht.‹
Aber ich werde weiterlächeln, denn mir gefällt der Gedanke, dass die anderen mich für verrückt halten. Das Lächeln ist meine Art zu sagen: ›Ihr könnt meinen Körper zerstören, aber nicht meine Seele.‹
Heute Abend werde ich, bevor ich aufbreche, meinen Stapel Papyri ordnen, wozu ich bisher keine Lust hatte. Und dabei werde ich auf Teile meiner Geschichte stoßen. Doch wer weiß, vielleicht ist unter den Briefen und Notizen etwas Interessantes, etwas, das mir Vergangenes erzählt oder auf Zukünftiges hinweist. Denn ich bin so weit gereist und so oft irgendwo angekommen und wieder fortgegangen.
Ich werde mein Lieblingshemd anziehen und zum ersten Mal darauf achten, wie es genäht ist, und werde mir die Hände dessen vorstellen, derden Stoff gewebt hat, und den Fluss, an dem die Baumwolle gewachsen ist. Ich werde begreifen, dass all diese unsichtbaren Dinge einen Teil der Geschichte meines Hemdes ausmachen.
Sogar meine Sandalen, die nach so vielem Tragen mit meinen Füßen fast wie verwachsen sind, werden darauf brennen, sich auf die Suche nach einem Geheimnis zu machen, das zu entdecken sich lohnt. Ich gehe in die Zukunft, und die Schrammen auf meinen Sandalen werden mir unterwegs gute Dienste leisten, indem sie mich an all die Male erinnern, in denen ich bereits gestrauchelt bin.
Möge alles, was meine Hand berührt, was meine Augen sehen, mein Mund kostet, sich jetzt anders anfühlen, anders aussehen, anders schmecken, obwohl es sich nicht verändert hat. So werden die Dinge keine tote Materie mehr sein und mir das Geheimnis verraten, weshalb sie schon so lange bei mir sind. Und sie werden mir zugleich das Wunder der Wiederbegegnung mit Gefühlen verschaffen, die von der Routine bereits verbraucht waren.
Ich werde einen Tee kosten, den ich noch nie getrunken habe und von dem alle sagen, er schmecke überhaupt nicht. Und ich werde durch eine Straße gehen, die alle uninteressant finden, und selbst herausfinden, ob ich dorthin zurückkehren möchte.
Falls morgen die Sonne scheint, möchte ich zu ihr hochschauen, als sähe ich sie zum ersten Mal.
Falls der Himmel bewölkt ist, möchte ich den Weg der Wolken verfolgen. Gewöhnlich fehlt mir dazu die Zeit, oder ich bin einfach nicht achtsam genug. Doch morgen werde ich mich auf die Sonnenstrahlen konzentrieren, auf die am Himmel dahinziehenden Wolken und die Schatten, die sie werfen.
Ich werde den Himmel betrachten, für dessen Existenz die Menschheit aufgrund jahrtausendelanger Beobachtung bereits eine ganze Reihe vernünftiger Erklärungen gefunden hat.
Doch ich will alles, was ich über die Sterne gelernt habe, wieder vergessen, damit sie in meiner Vorstellung wieder zu Engeln oder zu Kindern oder zu all dem werden können, was ich dann glauben möchte.
Die Zeit und das Leben haben alles vollkommen erklärbar gemacht – ich aber brauche das Mysterium, den Donner, der die Stimme eines zornigen Gottes ist, obwohl dies viele hier für gotteslästerlich halten.
Ich möchte, dass wieder Phantasie in mein Leben einzieht, möchte mir die Dinge neu vorstellen können, weil ein zorniger Gott viel überraschender, erschreckender und interessanter ist als ein Phänomen, das mir kluge Leute erklären.
Ich werde zum ersten Mal lächeln, ohne mich schuldig zu fühlen, denn Lächeln ist keine Sünde.
Ich werde zum ersten Mal alles meiden, was mir Leid verursacht, denn Leiden ist keine Tugend.
Ich werde mich nicht über mein Leben beklagen und darüber, dass sich nie etwas ändert. Denn ich werde den morgigen Tag erleben, als wäre er der erste, und werde in seinem Verlauf vieles entdecken, von dessen Existenz ich bisher nichts geahnt habe.
Die Menschen, die ich unzählige Male mit einem ›Guten Morgen‹ begrüßt habe, werde ich morgen anders grüßen. Mein Gruß wird eine Segnung sein, die mit dem Wunsch verbunden ist, dass alle auch angesichts des bevorstehenden Unglücks begreifen mögen, welch großes Geschenk es ist,
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