Die Schriften von Accra (German Edition)
keine Giraffe ohne einen langen Hals und keinen Kaktus ohne Stacheln vorstellen. Erst die Unregelmäßigkeit der Berggipfel, die uns umringen, macht sie eindrucksvoll. Würde Menschenhand allen die gleiche Form geben, würden sie kaum noch achtungsgebietend sein. Gerade das Unvollkommene erstaunt uns und zieht uns an.
Wenn wir eine Zeder anschauen, denken wir nicht: ›Die Zweige sollten alle gleich lang sein.‹ Wir denken: ›Sie ist stark.‹
Wenn wir eine Schlange sehen, denken wir nicht: ›Sie kriecht auf dem Boden, während ich aufrecht gehe.‹ Sondern: ›Sie ist zwar klein, aber dafür bunt, und ihre Bewegungen sind elegant, und sie ist stärker als ich.‹
Wenn ein Kamel uns quer durch die Wüste ans Ziel trägt, sagen wir auch nicht: ›Was hat es für hässliche Höcker und Zähne!‹, sondern: ›Es hat mich getreulich durch die Wüste getragen und verdient meine Anerkennung. Ohne es könnte ich die Welt nicht kennenlernen.‹
Der Sonnenuntergang ist immer schöner, wenn der Himmel von unregelmäßigen Wolken durchzogen ist, denn nur so kann er die vielen Farben widerspiegeln, aus denen die Träume und die Verse der Dichter gemacht sind.
Bedauernswert sind jene, die denken: ›Ich bin hässlich, und deshalb klopft die Liebe nicht an meine Tür.‹ Dabei hat die Liebe durchaus angeklopft, nur waren sie nicht bereit, sie hereinzulassen.
Sie wollten sich zuerst noch schnell schön machen, obwohl sie es bereits waren.
Oder sie versuchten wie die anderen zu sein, während die Liebe nach jemand Einzigartigem suchte.
Sie wollten etwas widerspiegeln, was von außen kam, und vergaßen dabei, dass das stärkste Licht von innen heraus kommt.«
Und ein junger Mann, der noch
in derselben Nacht aufbrechen sollte, sagte:
»Ich habe nie gewusst, welchen Weg
ich einschlagen soll.«
U nd der Kopte sagte:
»So wie die Sonne sendet auch das Leben sein Licht in alle Richtungen.
Um Feuer zu machen, muss man die Strahlen der Sonne in einem Punkt bündeln. Wurde doch mit dem Feuer der Welt das große Mysterium der göttlichen Kraft offenbart. Es wärmt, wenn es brennt, aber es wird auch gebraucht, um aus Getreide Brot zu backen.
Wenn wir jung sind, wollen wir alles auf einmal und setzen wahllos die Kräfte ein, die uns gegeben wurden.
Doch es kommt der Augenblick, in dem wir das innere Feuer bündeln müssen, damit unser Leben einen Sinn erhält.
Dann fragen wir uns: ›Was aber ist der Sinn des Lebens?‹
Einige weichen dieser Frage bewusst aus, denn sie stört, raubt einem den Schlaf, und sie lässt sich nicht leicht beantworten.
Es sind immer dieselben, die den morgigen Tag wie den gestrigen Tag leben.
Und wenn der Todesengel kommt, werden sie sagen: ›Mein Leben war zu kurz, ich habe meine Segnungen vergeudet.‹
Andere jedoch lassen die Frage zu. Aber da sie keine Antwort darauf haben, beginnen sie zu lesen, was jene geschrieben haben, die sich der Frage bereits gestellt haben. Und stoßen unversehens auf eine Antwort, die sie für richtig halten. Und übernehmen sie als ihre eigene. Sie schaffen Gesetze, mit denen sie anderen das aufzwingen wollen, was sie für den alleinigen Sinn des Lebens halten. Sie bauen Tempel, um diesem Lebenssinn zu huldigen, und Gerichte, um über jene zu richten, die ihren Wahrheitsanspruch nicht gutheißen.
Schließlich gibt es jene, die begreifen, dass diese Frage eine Falle ist, denn es gibt keine Antwort darauf.
Anstatt weiter Zeit damit zu vergeuden, beschließen sie zu handeln. Sie versetzen sich in ihre Kindheit zurück und versuchen herauszufinden, was sie damals begeistert hat. Und widmen, allen Ratschlägen der Älteren zum Trotz, diesem inneren Feuer ihr Leben.
Ganz allmählich wird ihnen klar, dass ihr Tunmit einer geheimnisvollen Absicht verbunden ist, die sich der menschlichen Erkenntnis entzieht. Und sie senken ehrfürchtig den Kopf vor dem Mysterium und beten darum, nicht von einem Weg abzukommen, den sie zwar nicht kennen, den sie aber des Feuers wegen gehen, das in ihrem Herzen brennt.
Sie folgen, sooft sie können, ihrer Eingebung und vertrauen auf die Disziplin, wenn die Eingebung sie im Stich lässt.
Sie wirken verrückt, und manchmal verhalten sie sich auch wie Verrückte. Aber sie sind nicht verrückt. Sie haben die wahre Liebe entdeckt und die Kraft des Willens.
Und nur die Liebe und der Wille offenbaren ihnen das Ziel und den Weg, den sie gehen müssen.
Der Wille ist klar wie Kristall, die Liebe rein und ihre Schritte ganz fest. Und auch wenn
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