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Die Schuld des Tages an die Nacht

Titel: Die Schuld des Tages an die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yasmina Khadra
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leid, dass ich Sie in diese Geschichte hineingezogen habe.«
    »Was geschehen ist, ist geschehen.«
    »Ich bete jede Nacht, dass Jean-Christophe nichts passiert ist.«
    »Wenn man nur wüsste, wo er ist.«
    »Haben Sie noch immer nichts von ihm gehört?«
    »Leider nein.«
    Sie blickte auf ihre verknoteten Finger.
    »Jonas, was soll ich Ihrer Meinung nach tun? Ich war immer aufrichtig zu ihm. Ich habe ihm von Anfang an gesagt, dass mein Herz einem anderen gehört. Er wollte mir einfach nicht glauben. Oder vielleicht dachte er auch, er habe eine Chance. Ist es meine Schuld, wenn er nie eine hatte?«
    »Ich sehe nicht, worauf Sie hinauswollen, Mademoiselle. Übrigens ist das hier weder der richtige Ort noch der passende Zeitpunkt …«
    »Doch«, unterbrach sie mich. »Es ist genau der richtige Zeitpunkt, um die Dinge endlich beim Namen zu nennen. Nur, weil ich zu schamhaft war, mich offen zu meinen Gefühlen zu bekennen, habe ich zwei Herzen gebrochen. Ich bin aber keine Herzensbrecherin. Ich hatte nie die Absicht, wem auch immer Leid zuzufügen.«
    »Ichglaube Ihnen kein Wort.«
    »Sie müssen mir aber glauben, Jonas.«
    »Nein, unmöglich. Sie haben es an Respekt gegenüber Fabrice fehlen lassen. Sie haben sogar gewagt, mich unter dem Tisch zu berühren, während Sie ihm zulächelten. Dann haben Sie Jean-Christophe gekränkt und mich zum Komplizen Ihres Spielchens gemacht …«
    »Das ist kein Spielchen.«
    »Was wollen Sie überhaupt von mir?«
    »Ihnen sagen, dass ich … Sie liebe.«
    Es war, als wären auf einen Schlag sämtliche Elemente entfesselt. Mir war, als ob ringsum alles zerfiele, der Raum und die Regale, die Wände und der Ladentisch.
    Émilie hatte sich nicht gerührt. Sie sah mich unverwandt aus ihren himmelgroßen Augen an, die Finger noch immer um ihr Taschentuch gekrampft.
    »Mademoiselle, ich bitte Sie, gehen Sie jetzt nach Hause.«
    »Haben Sie nicht verstanden …? Ich habe mich nur deshalb in die Arme eines anderen geworfen, weil ich wollte, dass Sie mich sehen, habe nur deshalb schallend gelacht, damit Sie mich hören … Ich wusste nicht, wie ich mich Ihnen gegenüber benehmen, wie ich Ihnen sagen sollte, dass ich Sie liebe.«
    »Das dürfen Sie nicht sagen.«
    »Wie soll man den Ruf seines Herzens zum Schweigen bringen?«
    »Ich weiß es nicht, Mademoiselle. Und ich will es auch gar nicht wissen.«
    »Warum nicht?«
    »Ich bitte Sie …«
    »Nein, Jonas. Kein Mensch hat das Recht, so etwas von einem zu verlangen. Ich liebe Sie. Und es ist höchste Zeit, dass Sie es erfahren. Sie ahnen nicht, was es mich kostet und wie sehr ich mich schäme, mich so vor Ihnen zu entblößen, so beharrlich für ein Gefühl zu kämpfen, das Sie nicht mit voller Wucht erfasst, während es mich schier vernichtet. Aber ich wäre doppelt un glücklich,wenn ich noch länger verschwiege, was meine Augen immerzu hinausschreien: Ich liebe Sie! Ich liebe Sie! Ich liebe Sie! Ich liebe Sie, sooft ich atme. Ich habe Sie vom ersten Augenblick an geliebt … seit damals, vor zehn Jahren … genau hier, in dieser Apotheke war das. Ich weiß nicht, ob Sie sich noch erinnern, aber ich habe es nie vergessen. Es hatte an jenem Morgen geregnet, und meine Wollhandschuhe waren ganz nass. Ich kam jeden Mittwoch hierher, wegen meiner Spritze. Und an jenem Tag kamen Sie gerade von der Schule zurück. Ich erinnere mich noch genau an die Farbe Ihres Ranzens mit den genagelten Riemen, an den Schnitt Ihrer Kapuzenjacke und sogar an die offenen Schnürsenkel Ihrer braunen Halbschuhe. Sie waren damals dreizehn Jahre alt … Wir haben uns über die Karibik unterhalten … Während Ihre Mutter mich im Hinterzimmer behandelte, haben Sie eine Rose für mich gepflückt und heimlich in mein Erdkundebuch gelegt.«
    Ein Blitz durchzuckte mein Gedächtnis, wirbelte eine Wolke von Erinnerungen auf. Alles war wieder da: Émilie … in Begleitung dieses großen Mannes, der aus einem Hinkelstein herausgehauen zu sein schien . Endlich begriff ich, warum beim Strandpicknick dieser eigentümliche Ausdruck über ihr Gesicht gehuscht war, als ich ihr sagte, ich sei Apotheker. Sie hatte sich nicht geirrt: Wir waren uns tatsächlich vor langer Zeit schon einmal irgendwo begegnet .
    »Erinnern Sie sich?«
    »Ja.«
    »Sie hatten mich gefragt, was das denn sei, Guadeloupe. Eine französische Insel in der Karibik, hatte ich Ihnen geantwortet … Als ich dann in meinem Erdkundebuch die Rose fand, hat mich das sehr berührt, und ich habe das Buch an mich gepresst.

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