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Die Schuld des Tages an die Nacht

Titel: Die Schuld des Tages an die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yasmina Khadra
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sahen uns an, wie um zu prüfen, ob wir einem ähnlichen Einfluss erlagen. Sie war knallrot. Vermutlich der Abglanz meines eigenen Gesichts.
    »Wie geht es Ihrem Onkel?«, fragte sie, um ihre Verlegenheit zu überspielen.
    Ich wusste gar nicht, worauf sie hinauswollte.
    »Sie schienen neulich abends sehr besorgt zu sein …«
    »Ach so … Ja, ja, es geht ihm schon viel besser.«
    »Ich hoffe, es war nichts Ernstes.«
    »Nein, nein … Es war harmlos.«
    »Ich hatte mir nach Ihrem Verschwinden große Sorgen gemacht.«
    »Wir sind noch mal mit dem Schrecken davongekommen.«
    »Um Sie hatte ich mir Sorgen gemacht, Monsieur Jonas. Sie waren so blass.«
    »Ich? Ach, wissen Sie …«
    Ihre Röte ließ nach, ihre Verwirrung auch. Sie sah mir in die Augen, entschlossen, meinen Blick auf ewig zu fesseln.
    »Ich hätte gern auf diese Aufregung verzichtet. Ich fing gerade an, mich an Sie zu gewöhnen. Sie hatten ja kaum etwas gesagt.«
    »Ich bin ein schüchterner Mensch.«
    »Ich auch. Das ist auf Dauer sehr lästig. Man bringt sich um vieles. Und bestraft sich damit am Ende selbst … Nachdem Sie fort waren, wurde es sehr langweilig.«
    »Simon war doch in Hochform …«
    »Ichaber nicht …«
    Ihre Hand glitt vom Buch und wagte sich auf mein Handgelenk vor. Hastig zog ich meinen Arm zurück.
    »Wovor haben Sie Angst, Monsieur Jonas?«
    Diese Stimme …! Die nun gar nicht mehr bebte, sondern sich festigte, immer entschiedener klang, kraftvoll und selbstbewusst, so souverän wie die Stimme ihrer Mutter.
    Wieder ergriff sie meine Hand, und diesmal stieß ich sie nicht zurück.
    »Ich wollte schon längst einmal mit Ihnen reden, Monsieur Jonas. Aber Sie entziehen sich mir wie eine Luftspiegelung … Warum tun Sie das?«
    »Ich entziehe mich Ihnen doch nicht …«
    »Sie lügen … Es gibt Dinge, die uns vom ersten Täuschungsmanöver an verraten. Man kann sich noch so sehr tarnen, unfreiwillig verrät man sich doch … Ich wäre so froh, wenn wir mal einen Moment für uns hätten. Ich bin mir sicher, wir haben sehr viel gemeinsam, glauben Sie nicht auch …?«
    »…«
    »Wir könnten uns doch einmal verabreden?«
    »Ich habe zurzeit furchtbar viel zu tun.«
    »Ich würde gerne unter vier Augen mit Ihnen sprechen.«
    »Worüber?«
    »Hier ist weder der richtige Ort noch der passende Zeitpunkt … Ich würde mich sehr freuen, wenn Sie mich einmal zu Hause besuchten. Unser Haus liegt an der Piste zum Marabout … Es wird nicht viel Zeit in Anspruch nehmen, das verspreche ich Ihnen.«
    »Ja, aber, ich wüsste nicht, worüber wir reden sollten. Und außerdem, Jean-Christophe, der …«
    »Was ist mit Jean-Christophe?«
    »Wir sind hier in einem ganz kleinen Dorf, Mademoiselle. Die Leute reden viel. Und Jean-Christophe könnte es übelnehmen …«
    »Was übelnehmen …? Wir tun doch nichts Anstößiges. Und außerdemgeht es ihn nichts an. Er ist nur ein Freund. Zwischen ihm und mir ist nichts Ernstes.«
    »Ich bitte Sie, wie können Sie das sagen. Jean-Christophe ist völlig verrückt nach Ihnen.«
    »Jean-Christophe ist ein feiner Kerl. Ich mag ihn sehr … aber nicht genug, um mein Leben mit ihm zu teilen.«
    Ihre Worte warfen mich um.
    In ihren Augen lag der Glanz einer Degenklinge.
    »Sehen Sie mich doch nicht so an, Monsieur Jonas. Das ist die Wahrheit. Zwischen uns ist nichts.«
    »Alle im Dorf glauben, Sie seien verlobt.«
    »Da irren sie sich … Jean-Christophe ist ein guter Kamerad, mehr nicht. Mein Herz gehört einem anderem«, fügte sie hinzu und drückte meine Hand sanft an ihre Brust.
    »Bravo!«
    Der Schrei klang wie eine Detonation und ließ uns beide erstarren: Jean-Christophe stand in der Tür, mit einem Blumenstrauß. Sein Blick sprühte vor Hass, loderte, brachte mich zur Strecke. Zitternd stand er da, fassungslos, völlig außer sich, buchstäblich unter dem Himmel begraben, der da über ihm eingestürzt war.
    »Bravo!«, schleuderte er uns entgegen, warf den Blumenstrauß zu Boden und zertrat ihn.
    »Diese Rosen sollten für meine Liebste sein, und jetzt geben sie meinen Träumen das letzte Geleit … Was für ein Idiot ich doch war! Was für ein Trottel! … Und du, Jonas, du bist ein widerlicher Mistkerl!«
    Er knallte die Tür so heftig zu, dass die Scheibe einen Sprung bekam, und lief davon.
    Ich rannte hinter ihm her. Er lief im Zickzack durch die Seitengassen und versetzte allem, was auf seinem Weg lag, einen wütenden Fußtritt. Als er merkte, dass ich hinter ihm war, drehte er sich um und drohte mir

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