Die Schuld des Tages an die Nacht
mit dem Finger:
»Bleib, wo du bist, Jonas … Komm bloß nicht näher, wenn du nicht willst, dass ich dich wie einen Wurm zerquetsche.«
»Dasist ein Missverständnis, Chris. Ich schwöre dir, da läuft nichts zwischen ihr und mir.«
»Geh zum Teufel, du Scheißkerl! Und nimm sie gleich mit! Du bist ein widerlicher Mistkerl, ein dreckiger beschissener Schweinehund!«
Wutentbrannt stürzte er auf mich zu, packte mich und drängte mich gegen eine Bretterwand. Während er mich beschimpfte, bekam ich seine Spuckespritzer ab. Dann versetzte er mir einen Hieb in die Magengrube. Mir blieb der Atem weg, und ich ging mit einem Knie zu Boden.
»Warum stolpere ich nur immer über dich, wenn ich versuche, mein Glück einzufangen?«, jammerte er, die Augen blutunterlaufen, Schaumbläschen vorm Mund. »Verdammt noch mal, warum nur? Warum stehst du immer wie ein böses Omen an meinem Weg?«
Er versetzte mir einen Fußtritt in die Flanke.
»Ich verfluche dich! Ich verfluche dich und den Tag, an dem du in mein Leben getreten bist!«, brüllte er, bereits im Davonlaufen. »Ich will dich nie wiedersehen, nie wieder von dir hören, bis zum Ende aller Zeiten, du falscher Kerl, du elender, undankbarer Schuft!«
Ich lag mit verrenkten Gliedern am Boden und wusste nicht, ob ich mehr unter dem Herzeleid oder der Brutalität meines Freundes litt.
Jean-Christophe kam nicht mehr nach Hause zurück. André erzählte, er habe ihn wie besessen querfeldein laufen sehen, danach gab es kein Lebenszeichen mehr. Wir warteten zwei Tage, eine Woche; nichts. Seine Eltern waren halbtot vor Sorge. Jean-Christophe ließ seine Angehörigen nie ohne Nachricht. Als er mit Isabelle Schluss gemacht hatte, war er auf dieselbe Art und Weise verschwunden, aber er hatte abends seine Mutter angerufen, um sie zu beruhigen. Simon kam mehrere Male bei mir vorbei, um zu hören, ob es Neues gebe. Es ließ ihm keine Ruhe, und das verbarg er auch nicht. Jean-Christophe hatte sich ge radeerst von einer Depression erholt. Einen Rückfall würde er nicht überleben. Ich hatte solche Angst um ihn, dass Simons Befürchtungen mir den Schlaf raubten. Ich verbrachte meine Nächte damit, mir alle möglichen dramatischen Szenen auszumalen, und oft stand ich auf, goss mir einen Krug Wasser ein, lief auf dem Balkon hin und her und trank dabei den Krug leer. Ich wollte nichts von dem erzählen, was in der Buchhandlung vorgefallen war. Ich schämte mich dafür; ich versuchte mir einzureden, dieses furchtbare Missverständnis habe niemals stattgefunden.
»Dieses Flittchen von Émilie muss ihm etwas gesagt haben, das er nicht verdaut hat«, knurrte Simon. »Dafür lege ich meine Hand ins Feuer. Diese Aufreißerin hat garantiert etwas damit zu tun.«
Ich traute mich nicht, ihm in die Augen zu blicken.
Am achten Tag schaltete Jean-Christophes Vater die Polizei ein, nachdem er zuvor seine Bekannten in Oran kontaktiert und diskret Nachforschungen angestellt hatte, um nicht das ganze Dorf zu alarmieren.
Fabrice kam Hals über Kopf nach Río zurück, als er von Jean-Christophes Verschwinden hörte.
»Herrje, was ist denn passiert?«
»Ich habe absolut keine Ahnung«, antwortete Simon bedrückt.
Wir brachen zu dritt nach Oran auf, suchten unseren Freund in Bars und Bordellen und den verrufenen Funduks von La Scalera, wo man sich für ein paar Scheine tage- und nächtelang mit alternden Prostituierten einschließen, seinen billigen Rausch ausschlafen und Opiumpfeifen nuckeln konnte. Doch nirgends die leiseste Spur. Wir zeigten Jean-Christophes Foto sämtlichen Puffmüttern und Kneipenwirten, den Rausschmeißern vor den Kabaretts und den moutchos , den Masseuren im Hammam. Kein Mensch hatte ihn gesehen. Im Krankenhaus und auf den Polizeistationen auch nicht.
Émiliekam mich in der Apotheke besuchen. Ich wollte sie auf der Stelle hinauswerfen. Ihre Mutter hatte recht. Zu viele verderbliche Einflüsse, zu viele dämonische Elemente gerieten ins Spiel, sobald sich unsere Blicke trafen. Doch seltsam, kaum hatte sie den Laden betreten, ließen mich meine Kräfte im Stich. Ich war wütend auf sie, gab ihr die Schuld am Verschwinden Jean-Christophes und an dem, was ihm noch alles zustoßen könnte; doch in ihren Zügen las ich nur eine maßlose Traurigkeit, die mich auf der Stelle erweichte. Sie lehnte mit blutleeren Lippen am Ladentisch, ein zerknülltes Taschentuch in ihren kleinen Fingern, verzweifelt und hilflos.
»Es tut mir furchtbar leid.«
»Und mir erst!«
»Es tut mir auch
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