Die Schuld des Tages an die Nacht
An diesen Tag erinnere ich mich, als wäre es gestern. Hier, an dieser Stelle, stand ein Blumentopf, auf einer alten bauchigen Kommode. Und hinter der Theke, links von diesem Regal da, befand sich eine Marienstatue, eine Gipsfigur in hellen Farben …«
WährendÉmilie ihre Erinnerungen beschwor, dieselben, die mit verblüffender Präzision auch in mir wieder hochstiegen, wurde ich von ihrer sanften Stimme, ihrer Eloquenz nahezu betäubt. Es war, als trüge mich eine reißende Flut in Zeitlupe mit sich fort. Gleichsam kontrapunktisch zur Stimme ihrer Tochter erhob sich die Stimme von Madame Cazenave, flehentlich, klagend, gleich einer Litanei. Doch trotz ihrer Fülle und Lautstärke drang Émilies Stimme ungehindert zu mir durch, klar und rein.
»Younes«, sagte sie, »nicht wahr? Ich weiß es noch genau.«
»Ich …«
Sie legte mir einen Finger auf die Lippen:
»Ich bitte Sie, sagen Sie jetzt nichts. Ich habe Angst vor dem, was Sie mir jetzt sagen werden. Ich muss erst selber wieder zu Atem kommen, verstehen Sie?«
Sie nahm meine Hand und legte sie auf ihre Brust:
»Sehen Sie nur, wie mein Herz schlägt, Jonas … Younes …«
»Was wir da tun, ist schlecht«, antwortete ich, wagte aber nicht, meine Hand wegzunehmen. Ihr Blick hatte mich hypnotisiert.
»Und was ist daran schlecht?«
»Jean-Christophe liebt Sie doch. Er ist völlig verrückt nach Ihnen«, sagte ich, um die Stimmen der Mutter und der Tochter zu übertönen, die sich in meinem Kopf einen titanischen Kampf lieferten … »Er hat allen erzählt, Sie würden ihn heiraten.«
»Warum erwähnen Sie ihn überhaupt? Es handelt sich um uns .«
»Ich bedauere, Mademoiselle. Aber Jean-Christophe zählt in meinen Augen mehr als eine alte Kindheitserinnerung.«
Das hatte sie getroffen. Doch sie bewahrte Haltung.
»Das war nicht böse gemeint«, versuchte ich meinen Patzer auszubügeln.
Sie legte mir wieder den Finger auf den Mund:
»Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen, Younes. Ich ver steheSie. Sie hatten wohl recht, es ist nicht der passende Moment. Aber es war mir wichtig, dass Sie es erfahren. Für mich sind Sie weit mehr als eine alte Kindheitserinnerung. Und ich habe das Recht, so zu denken. Liebe kennt keine Verbote, keine Scham, es sei denn, man verleugnet sie. Oder opfert sie auf dem Altar der besten Absichten.«
Dann ging sie. Völlig lautlos. Ohne sich noch einmal umzudrehen. Nie habe ich eine tiefere Einsamkeit verspürt als in dem Moment, da sie im Straßenlärm verschwand.
15 .
JEAN-CHRISTOPHE WAR AM LEBEN .
Río Salado stieß einen Seufzer der Erleichterung aus.
Eines Abends, als keiner mehr damit rechnete, rief er seine Mutter an und teilte ihr mit, es gehe ihm gut. Madame Lamy zufolge war ihr Sohn geistig völlig klar . Er sprach ruhig, in einfachen, verständlichen Worten, und atmete ganz normal. Sie wollte wissen, warum er fortgegangen sei und woher er anrufe. Jean-Christophe antwortete ausweichend, mit Allgemeinplätzen, Río sei nicht die Welt und auch andere Regionen eine Entdeckung wert, und so umging er die Frage, wo er sich befand und wie er im Alltag zurechtkam, zumal er ohne Geld und Gepäck gegangen war. Madame Lamy drang nicht weiter in ihn; ihr Junge gab endlich ein Lebenszeichen von sich, das war immerhin etwas. Sie ahnte, dass das Trauma gewaltig und die zur Schau getragene Normalität ihres Sprösslings nur Tarnung war, und sie fürchtete, die Wunde aufzureißen, wenn sie allzu sehr daran rührte.
Dann schrieb Jean-Christophe Isabelle einen langen Brief, in dem er ihr seine große Liebe gestand und wie sehr er es bedauere, nichts daraus gemacht zu haben. Es war eine Art Vermächtnis; Isabelle Rucillio vergoss heiße Tränen, als sie ihn las, überzeugt, ihr abgewiesener »Verlobter« habe sich von einem Steilfelsen oder unter die Räder einer Lokomotive gestürzt, nachdem er ihn abgeschickt hatte – der Stempel auf der Briefmarke war unleserlich, und man wusste nicht, wo er ihn aufgegeben hatte.
DreiMonate später erhielt Fabrice seinen Brief, voller Entschuldigungen und Selbstbezichtigungen. Jean-Christophe bekannte, egoistisch gewesen zu sein und, von Begierde und Habsucht berauscht, die elementaren Anstandsregeln außer Acht gelassen und seine Pflichten gegenüber dem, den er seit Schultagen über alles mochte und der immer sein bester Freund bleiben würde, sträflich vernachlässigt zu haben … Der Brief war ohne Absenderadresse.
Acht Monate nach dem Vorfall in der Buchhandlung entdeckte Simon –
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