Die Schuld des Tages an die Nacht
Beharren nicht, und musste doch kämpfen, um nicht schwach zu werden – denn ich wusste, ließe ich nur ein Zeichen der Schwäche erkennen, würde sie flugs wieder vorbringen, was ich unter keinen Umständen zulassen durfte.
Ich litt unsäglich unter diesem plumpen, abscheulichen Manöver, bei dem ich den Ahnungslosen spielte. Von Besuch zu Besuch oder besser Trennung zu Trennung spürte ich stärker, wie Émilie mehr und mehr Platz in meinen Gedanken einnahm, in den Mittelpunkt meines Interesses rückte. Nachts fand ich erst Schlaf, nachdem ich mir ihre Gesten und ihr Schweigen noch einmal vergegenwärtigt hatte. Tagsüber wartete ich hinter dem Ladentisch auf ihr Erscheinen. Jeder Kunde, der eintrat, brachte mir ein Stück ihrer Abwesenheit mit, bis ich mich am Ende so sehr nach ihr sehnte, dass ich aufsprang, wenn die Ladenglocke bimmelte, und ärgerlich wurde, wenn nicht sie in der Tür stand. Welche Verwandlung ging in mir vor? Warum verübelte ich es mir, ein vernünftiger Junge zu sein? War korrektes Verhalten wirklich wichtiger als Aufrichtigkeit? Wozu war Liebe gut, wenn sie nicht stärker war als Magie und Blasphemie,wenn sie sich dem Verbot unterordnen musste, anstatt ihren eigenen Zielen, ihrer eigenen Maßlosigkeit zu folgen? Ich wusste nicht mehr ein noch aus. Und Émilies Leid kam mir schlimmer vor als aller Frevel, Abfall vom Glauben und Gotteslästerung in einem.
»Wie lange soll das so noch weitergehen, Younes?«, fragte sie mich, mit den Kräften am Ende.
»Ich weiß nicht, wovon Sie reden.«
»Es springt einem doch ins Auge. Von uns möchte ich reden … Wie können Sie mich nur so behandeln? Ich komme mehrmals die Woche in diese triste Apotheke, und Sie tun so, als sähen Sie meinen Kummer, meine Langmütigkeit, mein Hoffen und Warten nicht. Man könnte fast meinen, Sie wollten mich absichtlich demütigen. Warum? Was werfen Sie mir vor?«
»…«
»Ist es wegen der Religion? Weil ich Christin bin und Sie Muslim, ja?«
»Nein.«
»Was ist es dann? Kommen Sie mir nicht damit, dass ich Ihnen gleichgültig bin, dass Sie nichts für mich empfinden. Ich bin eine Frau, meine weibliche Intuition ist stark. Ich weiß, dass das Problem woanders liegt. Aber ich sehe überhaupt nicht, was für ein Problem das sein könnte. Ich habe Ihnen doch gesagt, was ich für Sie empfinde. Was muss ich denn noch tun?«
Sie war außer sich, sie konnte nicht mehr, würde gleich in Tränen ausbrechen. Mit geballten Fäusten stand sie vor mir, hätte mich am liebsten am Kragen gepackt und richtig durchgeschüttelt.
»Es tut mir wirklich leid.«
»Was soll das heißen?«
»Ich kann einfach nicht.«
»Sie können was nicht?«
Ich war verlegen, wohl auch unglücklich, und ebenso aufgebracht wie sie, nämlich über mich selbst, mein zweideutiges Verhalten, meine Feigheit und mein Unvermögen, einen kla renSchnitt zu machen und diesem Mädchen, das zur Geisel meiner Unschlüssigkeit geworden war, die Freiheit und Würde zurückzugeben, zumal ich wusste, dass unsere Geschichte niemals weiterginge. War ich dabei, mir etwas vorzulügen, mich auf die Probe zu stellen, wo es nichts zu beweisen und zu überwinden gab? War auch das wieder nur eine Form der Selbstbestrafung? Wie einen Schnitt machen, ohne mich regelrecht zu enthaupten, ohne völlig den Kopf zu verlieren? Émilie täuschte sich nicht, meine Gefühle für sie waren stark. Jedes Mal, wenn ich versuchte, mich zur Vernunft zu rufen, revoltierte mein Herz. Es verübelte mir, dass es verstümmelt werden sollte. Was tun? Was wäre das für eine Liebe, die aus der Schande erwuchs? Eine unwürdige Beziehung, ohne Gottes Segen? Wie sollte sie je die Verderbtheit überleben, den Nährboden, in dem sie wurzelte?
»Younes, ich liebe Sie … Younes, hören Sie mich?«
»…«
»Ich werde jetzt gehen. Und nicht mehr wiederkommen. Wenn Sie für mich dasselbe fühlen … Sie wissen, wo Sie mich finden.«
Eine Träne rollte ihr über die Wange; sie wischte sie nicht weg. Ihre himmelgroßen Augen ertränkten mich. Sie presste ihre kleinen Hände in die Magengrube, gewann langsam ihre Haltung zurück und verließ die Apotheke.
»O wie schade …«
Mein Onkel war hinter mir aufgetaucht. Ich überlegte hin und her, was er wohl meinte. Hatte er uns gehört? Er würde sich niemals erlauben, an der Tür zu lauschen. Das war nicht seine Art. Zwischen uns beiden war von allem die Rede, außer von Frauen. Dieses Thema war tabu. Trotz seiner Bildung und Emanzipation hinderte ihn
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