Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die Schuld des Tages an die Nacht

Titel: Die Schuld des Tages an die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yasmina Khadra
Vom Netzwerk:
begegnet ist. Sie zu beobachten, wie sie sich selbst genügten, ließ mich an ihrer Fülle teilhaben, an der Freude ihres stillen Glücks. Sie verkörperten die bedingungslose, vollkommene Liebe. In der Scharia ist es einer Nichtmuslimin bindend vorgeschrieben, sich zum Islam zu bekehren, be vorsie einen Muslim heiratet. Mein Onkel war da anderer Ansicht. Ihm war es egal, ob seine Frau Christin oder Heidin war. Er sagte, wenn zwei sich liebten, stünden sie jenseits weltlicher Zwänge und klerikaler Bannstrahlen. Denn die Liebe besänftige die Götter, und darüber ließe sich nicht verhandeln, da jedes Arrangement, jedes Zugeständnis das Heiligste antaste, was es gibt auf der Welt.
    Er stellte seinen Federhalter ins Tintenfass zurück und musterte mich nachdenklich:
    »Was ist los mit dir, mein Junge?«
    »Was meinst du …?«
    »Germaine meint, du hättest ein Problem.«
    »Ich wüsste nicht, welches. Habe ich mich über irgendetwas beklagt?«
    »Wer glaubt, seine Probleme gingen nur ihn etwas an, beklagt sich nicht … Du sollst wissen, dass du nicht allein bist, Younes. Und glaube vor allem nicht, dass du mir je zur Last fallen könntest. Du bist das Wesen, an dem ich am meisten hänge auf der Welt. Du bist alles, was mir von meiner Geschichte geblieben ist … Du bist jetzt in dem Alter, in dem man sich un geheuer viele Gedanken macht. Du erwägst, dir eine Frau zu nehmen, ein eigenes Haus zu haben, dein eigenes Leben aufzubauen. Das ist normal. Jeder Vogel muss früher oder später flügge werden.«
    »Germaine hat dummes Zeug erzählt.«
    »Das darfst du ihr nicht verübeln. Du weißt, wie sehr sie dich liebt. Ihre Gebete kreisen nur um dich. Deshalb bitte ich dich, hab keine Geheimnisse vor ihr. Wenn du Geld oder was auch immer brauchst, du kannst immer auf uns zählen.«
    »Das weiß ich doch.«
    »Das beruhigt mich.«
    Bevor er mich gehen ließ, nahm er wieder seinen Federhalter zur Hand, kritzelte etwas auf ein Stück Papier und reichte es mir:
    »Wärst du wohl so nett, im Buchladen vorbeizuschauen und mir diesen Roman zu besorgen?«
    »Natürlich, sofort.«
    Ichschob den Zettel in die Tasche und begab mich auf die Straße, wobei ich mich fragte, wie Germaine wohl auf diesen Gedanken gekommen war.
    Die Gluthitze der letzten Wochen hatte sich gelegt. Am von den Hundstagen erschöpften Himmel spann eine dicke Wolke ihre Wolle am Sonnenspinnrad; ihr Schatten glitt einem Geisterschiff gleich über die Weinfelder. Die Alten kamen nach und nach aus ihren Schlupflöchern hervor, glücklich, die Hitzewelle überlebt zu haben. Sie saßen in Shorts und schweißnassem Unterhemd auf den Hockern vor ihrer Haustür und labten sich am Anisette, das puterrote Gesicht unter ausladenden Hüten halb versteckt. Der Abend war nicht mehr fern, die Brise, die von der Küste herüberwehte, würde sogar erhitzte Gemüter kühlen … Mit dem Zettel meines Onkels in der Tasche marschierte ich auf die Buchhandlung zu, deren Auslagen vor Büchern und naiven Gouachen überquollen, die vom örtlichen Künstlernachwuchs signiert waren. Als ich die Ladentür aufstieß, sah ich zu meiner großen Überraschung hinter dem Tresen niemand anderen stehen als Émilie.
    »Guten Tag«, sagte sie nur, genauso verblüfft.
    Während der ersten Schrecksekunden wusste ich nicht mehr, warum ich eigentlich gekommen war. Mein Herz hämmerte wie ein wahnsinniger Schmied auf seinen Amboss.
    »Madame Lambert ist seit ein paar Tagen krank«, klärte sie mich auf. »Sie hat mich gebeten, sie zu vertreten.«
    Meine Hand brauchte mehrere Anläufe, bis sie endlich den Zettel in meiner Tasche gefunden hatte.
    »Kann ich Ihnen behilflich sein?«
    Wortlos hielt ich ihr den Zettel hin.
    » La Peste , von Albert Camus«, las sie, »erschienen bei Gallimard …«
    Sie nickte und war schon hinter den Regalen verschwunden, vermutlich, um sich zu sammeln. Auch ich nutzte die Pause, um tief durchzuatmen. Ich hörte, wie sie eine Trittleiter umherschob, in den Regalen suchte, immer wieder »Camus« vor sich hinmurmelte, von der Leiter herunterkletterte, zwischen den Büchertischen entlanglief und endlich rief:
    »Ah! Da ist er ja …«
    Sie kam zurück, und ihre Augen waren weiter als die Prärie.
    »Er lag direkt vor meiner Nase«, setzte sie zusehends verwirrter hinzu.
    Meine Hand streifte flüchtig ihre, als ich das Buch nahm. Dieselbe Starkstromwelle, die mich damals im Restaurant in Oran getroffen hatte, als sie mich unter dem Tisch berührte, durchzuckte mich. Wir

Weitere Kostenlose Bücher