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Die Schuld des Tages an die Nacht

Titel: Die Schuld des Tages an die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yasmina Khadra
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der sich zwischenzeitlich mit Madame Cazenave zusammengetan hatte, um in Oran ein Modehaus für Haute Couture zu gründen – in der Post seinen Brief: ein aktuelles Foto von Jean-Christophe in Uniform, mit geschorenem Schädel und Gewehr im Anschlag, und auf der Rückseite ein paar dahin geworfene Worte: Ein Leben wie im Schloss! Danke, mein Adjutant . Der Poststempel auf dem Umschlag verwies auf Khemis Méliana. Fabrice beschloss, dorthin zu fahren. Wir, das heißt Simon und ich, begleiteten ihn bis zur Kaserne der genannten Stadt, wo man uns versicherte, dass die Schule seit drei oder vier Jahren nur noch »Eingeborene« aufnehme. Man reichte uns nach Cherchell weiter, doch Jean-Christophe war weder auf der Militärschule von Cherchell noch auf der von Koléa. Wir klopften an weitere Türen, forschten in den Garnisonen von Algier und Blida nach, ohne Erfolg. Wir jagten offensichtlich einem Phantom hinterher … Unverrichteter Dinge und völlig gerädert kehrten wir nach Río zurück. Fabrice und Simon hatten noch immer keine Erklärung dafür, warum unser Ältester sich einfach so abgesetzt hatte. Sie tippten auf Liebeskummer, aber sicher waren sie sich nicht. Émilie machte nicht den Eindruck, als hätte sie sich etwas vorzuwerfen. Man sah sie bald in der Buchhandlung, wo sie Madame Lambert zur Hand ging, bald auf der Hauptstraße von Río beim Schaufensterbummel, stets mit dem Ausdruck sanfter Melancholie im Gesicht. Wie auch immer, die Tatsache, dass Jean-Christophe zum Kommiss gegangen war, machte mehr alseinem zu schaffen. Sich bei der Armee zu verdingen wäre keinem Jungen von Río Salado in den Sinn gekommen; das war nicht unsere Welt, und wir konnten uns Jean-Christophes Entschluss nur mit dem absurden, unerträglichen Wunsch nach Selbstbestrafung erklären. In seinen Briefen sprach er kein einziges Mal die Verletzungen an, die ihn dazu gebracht hatten, auf seine Freiheit, seine Familie und sein Dorf zu verzichten, um sich willenlos bis zum Kadavergehorsam der militärischen Disziplin zu unterwerfen und die schleichende Zersetzung seiner Persönlichkeit dabei billigend in Kauf zu nehmen.
    Der Brief an Simon war der letzte.
    Ich erhielt den meinen nie.
    Émilie kam mich weiterhin besuchen. Manchmal standen wir einander wortlos gegenüber, wechselten noch nicht einmal ein paar Höflichkeitsfloskeln. Hatten wir dem bereits Gesagten noch etwas hinzuzufügen? Alles Wesentliche war ausgesprochen. In ihren Augen brauchte ich Zeit, und sie hatte sich mit Geduld zu wappnen; in meinen Augen war das, was sie mir vorschlug, völlig unrealisierbar, aber wie sollte ich es ihr klarmachen, ohne sie zu beleidigen und das ganze Dorf gegen mich aufzubringen? Eine Verbindung zwischen uns war nicht möglich, war widernatürlich. Ich war hilflos. Wusste nicht, was tun. Also schwieg ich. Émilie hielt an sich; sie wollte nichts überstürzen, bemühte sich nur, um jeden Preis Kontakt zu halten. Sie dachte, ich hätte Schuldgefühle wegen Jean-Christophe, die ich früher oder später überwinden würde, dachte, ihre himmelgroßen Augen würden mit der Zeit meine Hemmungen besiegen. Seit es sich im Dorf herumgesprochen hatte, dass es Jean-Christophe gutging, war die Spannung zwischen ihr und mir gesunken, doch unser Verhältnis war noch längst nicht normal. Jean-Christophe war zwar nicht da, aber seine Abwesenheit höhlte einen Graben zwischen uns, überschattete unsere Gedanken, verdüsterte unsere Zukunftspläne. Émilie las es mir vom Gesicht ab. Sie kam entschlossenen Schrittes hereinspaziert, ihre nächtlichen Überlegungen, die sie mir unterbreiten wollte, glas klarvorformuliert, doch wenn der Augenblick der Wahrheit nahte, bekam sie weiche Knie und wagte nicht einmal mehr, meine Hand zu fassen oder mir den Finger auf den Mund zu legen.
    Sie schützte ausgefallene Beschwerden vor, verlangte nach einer Arznei, um ihre Anwesenheit in der Apotheke zu rechtfertigen. Ich notierte ihre Bestellung oder bediente sie, wenn das Produkt vorrätig war, mehr nicht. Sie gönnte sich einige Minuten des Nachdenkens, brachte ein oder zwei Anmerkungen vor, ein oder zwei praktische Fragen hinsichtlich der Anwendung des Medikaments, dann ging sie wieder heim. Insgeheim hoffte sie stets, eine Erschütterung in mir auszulösen, wartete verzweifelt, dass endlich ein Ruck durch mich ginge, der ihr erlaubte, mir ihr Herz zu öffnen, doch ich machte keinerlei Anstalten, sie zu ermuntern. Tat so, als bemerkte ich ihr stummes, tragisch geknebeltes

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