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Die Schuld des Tages an die Nacht

Titel: Die Schuld des Tages an die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yasmina Khadra
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bog in die Magenta-Kaserne ein, in der die Nationale Befreiungsarmee, die vor kurzem Einzug in die Stadt gehalten hatte, ihren Generalstab eingerichtet hatte. Der Wagen hielt vor einem der Blöcke. Der Fahrer bat den Wachposten, den »Leutnant« zu informieren, dass »sein Gast« eingetroffen sei.
    DerKasernenhof wimmelte von Männern in Drillichuniform, Greisen in Gandura und Leuten in ziviler Kleidung.
    »Jonas, mein lieber Jonas, wie glücklich bin ich, dich wiederzusehen!«
    Djelloul stand mit ausgebreiteten Armen auf der Treppe des Gebäudes. Der Leutnant, das war er. Er trug eine Fallschirmspringeruniform, einen Tropenhelm, Sonnenbrille, aber keinerlei Tressen. Er drückte mich so fest an sich, dass ich nach Luft schnappen musste, dann ließ er mich los und musterte mich von Kopf bis Fuß.
    »Mir scheint, du bist dünner geworden. Wie geht es dir? Ich habe in letzter Zeit oft an dich gedacht. Du bist ein gebildeter Mann, du warst zur Stelle, als das Vaterland dich gerufen hat, und ich frage mich, ob du wohl Lust hättest, dein Wissen und deine Diplome in den Dienst unserer jungen Republik zu stellen. Du musst ja nicht gleich antworten. Außerdem habe ich dich nicht deshalb herkommen lassen. Ich hatte dir gegenüber noch eine Schuld zu begleichen, und ich habe beschlossen, sie heute abzutragen, denn morgen wird alles anders sein. Ich will unbelastet in mein neues Leben gehen. Wie soll ich meine absolute Freiheit genießen, wenn mir noch Schuldner auf den Fersen sind?«
    »Du schuldest mir doch nichts, Djelloul.«
    »Das ist nett von dir, aber ich lege großen Wert darauf. Ich habe nie den Tag vergessen, an dem du mir Geld zugesteckt und mich mit dem Rad in mein Dorf gebracht hast. Für dich war das vielleicht nur eine Kleinigkeit, für mich war es eine Offenbarung. Damals habe ich erfahren, dass der Araber, der edle, würdige und großherzige Araber, mehr ist als ein alter Mythos, ungeachtet dessen, was die Kolonisation mit ihm angerichtet hat … Ich bin nicht gebildet genug, um dir zu erklären, was an diesem Tag in mir vorging, aber es hat mein ganzes Leben verändert.«
    Er fasste mich am Arm.
    »Komm mit.«
    Erführte mich zu einem Trakt mit schweren Eisentüren. Ich begriff, dass das Kerkerzellen waren. Djelloul steckte einen Schlüssel in ein Schloss, zog einen Riegel zur Seite und sagte:
    »Er war der grausamste und blutrünstigste Kämpfer der OAS und in mehrere terroristische Aktionen verwickelt. Ich habe Himmel und Erde in Bewegung gesetzt, um seine Haut zu retten. Er gehört dir. Damit ist meine Schuld beglichen … Los, mach die Tür auf. Sag ihm, dass er frei ist, dass er sich aufhängen lassen kann, wo immer er will, nur nicht hier, in meinem Land, wo kein Platz mehr für ihn ist.«
    Er salutierte, machte auf dem Absatz kehrt und verschwand in seinen Büroräumen.
    Ich hatte keine Ahnung, was das Ganze zu bedeuten hatte. Meine Hand ergriff den Türknauf, zog behutsam daran. Die Scharniere quietschten. Das Tageslicht ergoss sich in eine fensterlose Zelle, und ein Hitzeschwall schwappte mir entgegen, als hätte ich einen Ofen geöffnet. In einer Ecke kauerte ein Schatten. Hielt sich geblendet die Hand vor die Stirn, um sich vor dem brüsken Lichteinfall zu schützen.
    »Hau schon ab!«, brüllte ihn ein Wärter an, den ich noch gar nicht bemerkt hatte.
    Der Gefangene regte sich schwerfällig, stützte sich an der Wand ab, um aufzustehen. Er konnte sich kaum auf den Beinen halten. Als er zum Ausgang hinkte, machte mein Herz einen Satz. Es war Jean-Christophe, Jean-Christophe Lamy, oder vielmehr das, was von ihm noch übrig war, ein gebrochener, zitternder, halbverhungerter Mensch in verschmutztem Hemd und knittriger, schlotternder Hose mit offenem Schlitz und Schuhen ohne Schnürsenkel. Sein Gesicht, ausgemergelt und bleich, verschwand fast unter seinem Mehrtagebart. Er roch nach Urin und Schweiß, und seine Mundwinkel waren von einer dicken Kruste getrockneten weißlichen Speichels verklebt. Er war überrascht, mich hier zu sehen, als Zeuge seines ungeheuren Verfalls, warf mir einen rabenschwarzen Blick zu und versuchte, das Kinn zu heben, doch er war zu erschöpft. DerWärter packte ihn am Nacken und zerrte ihn brutal aus der Zelle.
    »Lass ihn in Ruhe!«, zügelte ich ihn.
    Jean-Christophe musterte mich von oben bis unten, murmelte: »Ich habe dich um nichts gebeten«, und schleppte sich in Richtung Kasernenausgang.
    Während er einfach davonhumpelte, musste ich unwillkürlich an die Zeit der

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