Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die Schuld des Tages an die Nacht

Titel: Die Schuld des Tages an die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yasmina Khadra
Vom Netzwerk:
in die Wolken ein und wird im Sturzflug von ein paar Turbulenzen geschüttelt. Mein junger Nachbar tätschelt mir den Handrücken, als meine Finger sich um die Lehne krampfen:
    »Das ist gar nichts, Tonton. Wir verlassen nur die Autobahn und kommen auf die Piste. Flugzeuge sind das sicherste Fortbewegungsmittel der Welt.«
    Ich drehe mich zum Bullauge, sehe die Wattewolken, die sich zur Lawine ballen, dann in Nebel verwandeln und immer dünner werden, sich neuerlich verdichten und vor mir auftürmen, danach endgültig zerfransen und himmlisches Blau freigeben, in dem faserige Streifen schweben. Was habe ich hier zu suchen …? Die Stimme meines Onkels übertönt das Dröhnen der Motoren: Willst du dein Leben in die Ewigkeit eingliedern und selbst mitten im Delirium hellsichtig bleiben, dann liebe … Liebe mit all deiner Kraft, liebe, als ob es das Einzige wäre, das du vollbringen kannst, liebe so sehr, dass es den Neid der Prinzen und Göt tererweckt … denn Liebe allein offenbart dem Hässlichen seine Schönheit. Das waren die letzten Worte meines Onkels gewesen. So hatte er zu mir in Río Salado auf dem Sterbebett gesprochen. Noch heute, über ein halbes Jahrhundert später, klingt seine ersterbende Stimme wie eine Prophezeiung in mir nach:
    Wer die schönste Geschichte seines Lebens verpasst, wird allein mit seiner Reue altern, und alles Seufzen wird seiner Seele keine sanfte Wiege sein … Möchte ich dieser Wahrheit ins Auge sehen oder sie bannen, wenn ich mich so weit außerhalb meines bevorzugten Territoriums vorwage …? Das Flugzeug schwenkt zur Seite, und aus dem Nichts taucht Frankreichs Erde vor mir auf. Mein Herz macht einen Satz, eine unsichtbare Hand drückt mir die Kehle zu. Die Emotion ist so stark, dass ich spüre, wie meine Finger sich durch die Polsterung der Armlehne bohren … Nicht lange, und mir blitzen die Reflexe der Gebirgsfelsen entgegen, jener unverwüstlichen, unbeugsamen Wächter der Küste, auf die das Meer, das schäumend zu ihren Füßen tobt, nicht den geringsten Eindruck macht. Dann, hinter der Kurve, Marseille …! Wie eine Vestalin, die sich der Sonne hingibt, erstreckt sich die Stadt über die Hügel, funkelnd vor Licht, mit bloßem Nabel, die Hüften den vier Winden dargeboten, gibt sie sich schlafend, tut nur so, als nehme sie das Rumoren der Wellen und der Welt im Hinterland nicht wahr. Marseille, die Sagenstadt, wo Titanen ihrer Genesung harren, sich Götter ohne Olymp versammeln, wo sich tausend Horizonte überschneiden; Marseille, die Vielgestaltige, schier unerschöpflich in ihrer Langmut und Großzügigkeit. Marseille, mein allerletztes Schlachtfeld, wo ich die Waffen strecken musste, besiegt von meiner Unfähigkeit, die Herausforderung zu meistern, mich meines Glückes würdig zu erweisen. Hier, in dieser Stadt, wo Wunder eine Mentalitätsfrage sind und die Sonne alles an den Tag bringt, sofern man bereit ist, seine Leichen aus dem Keller zu holen, habe ich erkannt, wie groß der Schaden war, den ich angerichtet und mir nie verziehen habe … Vor über fünfundvierzig Jahren war ich schon einmal hierhergekommen, um denSchatten meines Schicksals zu erhaschen, es zusammenzuflicken, wieder einzurenken, die Scherben zu kitten. Mich mit meinem Glück auszusöhnen, das mir grollte, weil ich es nicht am Schopf gepackt, sondern an ihm gezweifelt, ihm die Besonnenheit vorgezogen hatte, obwohl es sich mir mit Leib und Seele entgegenwarf. War hergekommen, um eine unmögliche Absolution zu erflehen, im Namen dessen, was Gott über alle Erfolge und alle Missgeschicke stellt: im Namen der Liebe. Verstört, unsicher, aber reinen Herzens war ich gekommen, um Erlösung zu erflehen, für mich und dann für alle anderen, die mir nahgeblieben sind, dem Hass zum Trotz, der uns auseinanderriss, der Trauer zum Trotz, die uns den Sommer verdunkelte. Ich erinnere mich noch an den Hafen mit seinen schwankenden Lichtern, in den der Passagierdampfer aus Oran einlief, an die Nacht, die die Kais überflutete, die Schatten auf den Landungsstegen; sehe gestochen scharf das Gesicht des Zöllners mit dem gezwirbelten Schnauzbart vor mir, der mich aufforderte, meine Taschen zu leeren und die Hände zu heben, als wäre ich ein Verdächtiger, den Polizisten, der den Eifer seines Kollegen missbilligte, den Taxifahrer, der mich zum Hotel brachte und sich furchtbar aufregte, weil ich den Wagenschlag angeblich zu heftig zugeknallt hatte, den Empfangschef im Hotel, der mich eine halbe Nacht warten ließ, da

Weitere Kostenlose Bücher