Die Schuld des Tages an die Nacht
die nächste an, und dann noch eine, bis er die leere Packung verdrossen zwischen den Fingern zerdrückte. Der Tag ging zu Ende; hinterrücks überfiel Dunkelheit die Bar. André spielte weiter und immer weiter, bis er irgendwann den Billardstock wegwarf und am Fuß des Tresens zu Boden glitt. Er vergrub sein Kinn zwischen den Knien, verschränkte die Finger im Nacken. So blieb er lange Zeit sitzen, bis irgendwann ein Wimmern einsetzte. André weinte, weinte ohne sich zu rühren, weinte so lange, bis es nichts mehr zu weinen gab. Dann wischte er sich das Gesicht mit einem Zipfel seines Hemdes trocken und stand auf. Er ging in den Hof und holte mehrere Benzinkanister, goss Benzin über den Tresen, die Tische, die Wände, den Boden, zündete ein Streichholz an und schaute zu, wie die Flammen sich im Raum breitmachten. Ich packte ihn am Ellenbogen und schob ihn ins Freie. Er blieb wie angewachsen im Hof stehen und sah,als wär’s eine Vision, auf sein Restaurant, das in Rauch aufging.
Als die Feuersglut das Dach verschlang, stieg André in sein Auto. Ohne ein Wort. Ohne einen Blick für mich. Er zündete den Motor, löste die Bremse und rollte sachte Richtung Dorfausgang.
Am 4 . Juli 1962 hielt ein Peugeot 203 vor der Apotheke. Zwei Männer in Anzug und schwarzer Sonnenbrille befahlen mir, ihnen zu folgen. »Es geht nur um ein paar Formalitäten«, erklärte mir der eine auf Arabisch mit starkem kabylischem Akzent. Germaine war krank, sie lag im Bett. »Es wird nicht lange dauern«, versprach mir der Chauffeur. Ich nahm auf dem Rücksitz Platz. Während der Wagen noch ein Wendemanöver vollführte, ließ ich den Kopf schon nach hinten sinken. Ich hatte die Nacht an Germaines Bett verbracht und war hundemüde.
Río sah man das Ende einer Epoche an, es hatte seine Substanz verloren, war einem neuen Geschick ausgeliefert. Die Trikolore, die einst den Rathausgiebel schmückte, war verschwunden. Auf dem Platz umringten Bauern mit Turban einen Redner, der auf dem Rand des Brunnenbeckens stand und ihnen auf Arabisch eine Ansprache hielt, der sie andächtig lauschten. Einige wenige Europäer drückten sich an den Wänden entlang; sie hatten es nicht übers Herz gebracht, ihre Grundstücke und Friedhöfe, ihre Häuser und Cafés, Treffpunkt der Freunde, ihre familiären Bindungen und Projekte aufzugeben, kurz, ihrem persönlichen Stück Vaterland und damit fast allem, was ihrem Leben Sinn gab, zu entsagen.
Es war ein schöner Tag, die Sonne so stechend wie der Schmerz jener, die fortgingen, so strahlend wie die Freude derer, die heimkehrten . Die Weinstöcke schienen vor lauter Lichtreflexen zu wogen, und der vor Hitze flirrende Horizont erinnerte an das Meer. Hier und da brannte ein Gehöft. Die Stille über der Landstraße war so kompakt, als konzentriere sie sich allein auf sich. Meine beiden Begleiter sagten kein Wort. Ich sah nurihren steifen Nacken, die Hände des Fahrers am Lenkrad, die blitzende Uhr an seinem Handgelenk. Wir durchquerten Lourmel wie einen undeutlichen Traum. Auch dort scharten sich Zuhörermengen um feurige Volkstribunen. Allerorten flatterten grünweiße Fahnen mit blutrotem Stern und Halbmond im Wind, bestätigten, dass eine neue Republik geboren, Algerien den Seinen zurückgegeben worden war.
Je mehr wir uns Oran näherten, umso mehr Autowracks tauchten beidseits der Straße in den Böschungen auf. Manche waren ausgebrannt, andere geplündert, die Wagentüren waren abgerissen, die Motorhauben klafften auf. Überall lagen Gepäckbündel, Koffer und Kisten herum, zerbeult oder auf geschlitzt. Im Gesträuch hatte sich Wäsche verfangen, auf der Landstraße waren persönliche Gebrauchsgegenstände verstreut. Auch Spuren von Angriffen waren zu erkennen, blutiger Staub und zersplitterte, mit Eisenstangen zertrümmerte Windschutzscheiben. Man hatte viele Familien auf dem Weg ins Exil abgefangen und umgebracht. Viele andere waren durch die Obstplantagen entkommen und hatten versucht, die Stadt zu Fuß zu erreichen.
Es gärte und brodelte in Oran. Tausende von Kindern rannten im Niemandsland vor der Stadt umher, bewarfen vor bei fahrende Autos mit Steinen, bejubelten kreischend ihre neugewonnene Freiheit. Überall in den Straßen ausgelassene Menschenmengen. Die Gebäude erbebten unter den Juju-Rufen der Frauen, die ihre Schleier wie wehende Banner trugen, das Dröhnen der Derboukas, Trommeln und Bendire, das Gellen der Hupen und der patriotischen Gesänge hallte von ihren Mauern wieder.
Der Peugeot
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