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Die Schuld des Tages an die Nacht

Titel: Die Schuld des Tages an die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yasmina Khadra
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zögerte, wollte erst noch seinen Besitz verkaufen; in der Hast des überstürzten Aufbruchs stieß man Geschäfte, Häuser, Autos, Fabriken, Filialen für ein Butterbrot ab; manchmal wartete man gar keinen Käufer mehr ab, hatte noch nicht mal die Zeit, seinen Koffer zu packen.
    In Río Salado klapperten die Fensterläden im Wind. Der Blick ging durch offene Fenster ins Innere leerer Häuser. Unförmige Bündel und Ballen stapelten sich auf den Gehwegen. Viele Einwohner waren schon abgereist, die übrigen blieben hilflos zurück. Ein Greis schwankte auf seiner Türschwelle, steif vor Rheuma. Ein junger Mann versuchte, ihm beim Gehen zu helfen, während der Rest der Familie ungeduldig in einem bis obenhin vollgestopfen Lieferwagen saß. »Hätten sie nicht warten können, bis ich tot bin?«, meckerte er. »Wo soll ich denn jetzt sterben?« Auf der Hauptstraße überall Lastwagen, Autos, Fuhrwerke – eine ganze Geschichte, die sich anschickte, das Feld zu räumen. Am Bahnhof wartete eine kopflose Menschenmenge auf einen Zug, der sich quälend viel Zeit zu lassen schien. Die Leute liefen verloren hin und her, verdrehten die Augen wie Blinde, die man sich selbst überlässt. Sie schienen buchstäblich von allen guten Geistern verlassen, von sämtlichen Schutzengeln und Heiligen. Der Wahnsinn, die Angst und der Schmerz, das Trauerspiel und der Zusammenbruch hatten nur noch ein einziges Antlitz: das ihre.
    Germaine saß vor der Apotheke, das Gesicht in den Händen vergraben.Unsere Nachbarn waren schon fort; ihre Hunde liefen unruhig hinter dem Gartentor hin und her.
    »Was soll ich tun?«, fragte sie mich.
    »Du bleibst«, sagte ich. »Kein Mensch wird dir etwas zuleide tun.«
    Ich nahm sie in die Arme. Ich hätte sie in der hohlen Hand halten können, so winzig kam sie mir vor an jenem Tag. Sie bestand nur aus Kummer und Ratlosigkeit, Erschöpfung und Benommenheit, Kapitulation und Ungewissheit. Ihre Augen waren rot vom vielen Weinen, rot vor lauter Angst. Ich küsste sie auf die tränennassen Wangen, die runzlige Stirn, den Kopf, den tausend Fragen und traurige Gedanken bestürmten … Ich brachte sie nach oben in die Wohnung und ging dann wieder auf die Straße. Madame Lambert hob die Hände zum Himmel und klatschte sich dann auf die Schenkel. »Wo soll ich hin? Ich habe niemanden auf der Welt, weder Kinder noch Verwandte.« Ich riet ihr, wieder nach Hause zu gehen. Sie hörte mir nicht zu und fuhr mit ihrem Selbstgespräch fort. Am Ende der Straße liefen die Ravirez wie aufgescheucht durcheinander, sie hatten ihre Koffer geschultert. Und auf dem Rathausplatz verlangten Familien, deren Gepäck ringsum verstreut lag, nach Omnibussen. Der Bürgermeister tat, was er konnte, um sie zu beruhigen, vergebens. Pépé Rucillio, der auch dort war, befahl ihnen, in ihre Häuser zurückzukehren und zu warten, bis die Dinge sich gelegt hätten. »Wir sind hier zu Hause. Wir werden nirgendwo hingehen.« Niemand hörte auf ihn.
    André Sosa war allein in seiner Snackbar, durch die der Wind von allen Seiten fegte. Allein mit seinen demolierten Tischen, seinem zertrümmerten Tresen, seinen zersplitterten Spiegeln. Der Fußboden funkelte nur so vor Glassplittern und Scherben. Die Deckenleuchten baumelten trist über der Verwüstung, sämtliche Birnen waren geplatzt. André spielte Billard. Er achtete nicht auf mich. Er achtete auf gar nichts. Er rieb die Spitze seines Stocks mit einem Stück Kreide ein, stützte sich auf die Tischkanteund visierte eine imaginäre Kugel an. Da waren keine Kugeln auf dem Billardtisch, und das grüne Tuch war zerfetzt. André war das egal. Er visierte die Kugel an, die er als Einziger sah, und stieß zu. Dann richtete er sich auf, sein Blick folgte dem Lauf der Kugel, und wenn sie traf, reckte er siegreich die Faust und umrundete den Billardtisch, um von der anderen Seite weiterzuspielen. Von Zeit zu Zeit ging er zum Tresen, zog an seiner Zigarette, deponierte sie im Aschenbecher und nahm die Partie wieder auf.
    »Dédé«, sprach ich ihn an, »du darfst nicht hierbleiben.«
    »Ich bin hier zu Hause«, murrte er und versetzte der Kugel einen Stoß.
    »Ich habe brennende Gehöfte gesehen, als ich vorhin aus Oran zurückgekommen bin.«
    »Ich rühre mich nicht von hier weg. Sollen sie doch kommen.«
    »Du weißt ganz genau, wie unvernünftig das ist.«
    »Ich rühre mich nicht von hier weg, sag ich dir.«
    Er fuhr fort zu spielen, drehte mir wieder den Rücken zu. Seine Zigarette erlosch; er zündete sich

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