Die Schuld des Tages an die Nacht
blühenden Unschuld zurückdenken, in der wir so vieles miteinander geteilt hatten, und eine kaum auszuhaltende Traurigkeit bemächtigte sich meiner. Ich sah ihm hinterher, wie er unsicheren Schrittes, mit gebeugtem Rücken, entschwand, und mir war, als ginge ein ganzes Leben dahin. Mir kam der Gedanke, wenn die Märchen meiner Mutter immer diesen Beigeschmack des Unfertigen hatten, dann, weil sie so endeten wie diese Epoche, die nachgerade zum Schatten Jean-Christophes geworden war und die jetzt, untermalt vom Hallen seiner Schritte, mit ihm entschwand, einer ungewissen Bestimmung entgegen.
Ich bin durch jubelnde Straßen voller Gesänge und juchzender Triller gekommen, wo sich Girlanden grünweißer Fahnen spannten, durch das ausgelassene Chaos der Trolleybusse in Feiertagslaune. Am nächsten Tag, am 5 . Juli, sollte Algerien einen Personalausweis bekommen, eine Staatsflagge und eine Nationalhymne und hätte Tausende von Anhaltspunkten und Wahrzeichen neu zu erfinden. Auf den Balkons ließen die Frauen ihren Freudentränen freien Lauf. Die Kinder tanzten auf den Plätzen herum, stürmten Denkmäler und Brunnen, Straßenlaternen und Autodächer und stürzten die Boulevards hinunter wie Wasserfälle. Ihr Geschrei stach Fanfaren und Festreden aus, Polizeisirenen und Publikumsapplaus. Sie waren schon im Morgen angelangt.
Dann bin ich zum Hafen gegangen, um die Verbannten ausreisen zu sehen. Die Kais quollen über von Passagieren, Gepäck und Taschentüchern. Dampfer warteten darauf, den Anker zu lichten, schwankend unter dem Kummer derer, die man des Landesverwies. Familien suchten sich in der Menge, Kinder quengelten oder weinten, alte Leute waren erschöpft auf ihren Bündeln eingenickt und beteten im Schlaf, nie wieder aufwachen zu müssen. Ich lehnte an einem Hafengeländer und dachte an Émilie, die vielleicht auch da war, irgendwo in der riesigen ratlosen Masse, die sich am Tor ins Unbekannte drängte, oder die schon abgereist war, oder tot, oder noch damit beschäftigt, ihre Sachen hinter der martialischen Fassade eines dieser Gebäude zu packen, und ich blieb am Geländer mit Ausblick über den Hafen zurück bis spät in die Nacht, bis zum Morgengrauen, unfähig, mich damit abzufinden, dass das, was niemals richtig begonnen hatte, tatsächlich schon zu Ende war .
IV . Aix-en-Provence (heute )
» MONSIEUR …«
Das engelsgleiche Gesicht der Stewardess lächelt mir zu. Warum lächelt sie? Wo bin ich …? Ich war eingenickt. Nach kurzer Verwirrung wird mir klar, dass ich in einem Flugzeug bin, so weiß wie ein Operationssaal, und dass die Wolken, die am Bullauge vorbeitreiben, kein Teil des Jenseits sind. Und alles fällt mir wieder ein: Émilie ist gestorben. Sie hat am Montag im Krankenhaus von Aix-en-Provence ihren letzten Atemzug getan . Das hatte mir Fabrice Scamaroni vor einer Woche mitgeteilt.
»Würden Sie bitte Ihre Rückenlehne geradestellen, Monsieur? Wir landen in wenigen Minuten.«
Die watteweichen Sätze der Stewardess hallen dumpf in meinem Kopf. Was für eine Rückenlehne …? Mein Nachbar, ein Jugendlicher im Trainingsanzug der algerischen Fußballnationalmannschaft, zeigt mir, welchen Knopf ich drücken muss, und hilft mir beim Aufrichten der Rückenlehne.
»Vielen Dank.«
»Gerne, Tonton . Wohnen Sie in Marseille, Onkelchen?«
»Nein.«
»Mein Cousin holt mich vom Flughafen ab. Wenn Sie wollen, können wir Sie in der Stadt absetzen.«
»Das ist sehr freundlich von dir, aber ich werde auch abgeholt.«
Ich betrachte seinen geschorenen Hinterkopf, Ausdruck eines verrückten Modediktats, dazu das einsame Haarbüschel amStirnansatz, dem eine dicke Schicht Gel Standfestigkeit verleiht.
»Haben Sie Angst vorm Fliegen?«, fragt er mich.
»Nicht wirklich.«
»Mein Vater kann kein Flugzeug landen sehen, ohne sich die Hände vors Gesicht zu schlagen.«
»So schlimm?«
»Sie kennen ihn ja nicht. Wir wohnen im neunten Stock in der Cité Jean de la Fontaine in Gambetta. Wissen Sie, wo in Oran? Diese riesigen Wohnblocks, die mit dem Rücken zum Meer stehen. Na, und mein Vater, der nimmt in acht von zehn Fällen lieber nicht den Fahrstuhl. Dabei ist er alt. Achtundfünfzig, und wurde schon an der Prostata operiert.«
»Achtundfünfzig, das ist doch gar nicht so alt.«
»Ich weiß, aber so ist das eben bei uns. Wir sagen nicht Papa, wir sagen der Alte … Wie alt sind Sie denn, Tonton ?«
»Ich bin schon so lange auf der Welt, dass ich vergessen habe, wie alt ich bin.«
Das Flugzeug taucht
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