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Die Schuld des Tages an die Nacht

Titel: Die Schuld des Tages an die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yasmina Khadra
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meine Reservierung nicht bestätigt worden war und er im Viertel ein freies Zimmer für mich suchen musste … Dieser Abend im März 1964 war fürchterlich gewesen, der Mistral blies die Schindeln vom Dach, der Himmel glühte kupferrot, es donnerte und toste. Das Zimmer war nicht beheizt, und ich konnte mich noch so sehr in meine Decken wickeln, mir war eiskalt. Das Fenster ächzte unter dem Anprall der Böen. Auf dem Nachttisch lag im schwachen Lampenlicht meine Ledertasche, darin ein Brief, unterzeichnet von André Sosa: »Lieber Jonas, Du hattest mich gebeten, nach Émilie Ausschau zu halten, und es ist mir gelungen, sie ausfindig zu machen. Es hat gedauert, aber ich freue mich, dass ich sie nun endlich gefunden habe. Für Dich. Sie arbeitet als Sekretärin bei einem Anwaltin Marseille. Ich habe versucht, sie anzurufen, aber sie hat sich geweigert, mit mir zu sprechen!! Ich habe keine Ahnung, warum. Wir standen uns ja nicht wirklich nah, jedenfalls nicht nahe genug, um einander gram zu sein, egal aus welchem Grund. Vielleicht hat sie mich auch mit jemand anderem verwechselt. Der Krieg hat so viel Vertrautes durcheinandergewirbelt, dass man sich fast fragen muss, ob das, was er uns angetan hat, nicht einer kollektiven Halluzination gleichkommt. Was soll’s, lassen wir die Zeit für uns arbeiten. Die Wunden sind noch zu frisch, als dass man von den Überlebenden auch nur ein Mindestmaß an Zurückhaltung verlangen könnte … Hier nun die Anschrift von Émilie: 143 , rue des Frères-Julien, in der Nähe der Canebière. Ganz einfach zu finden. Das Gebäude befindet sich direkt gegenüber der Brasserie Le Palmier . Das Palmier ist ein sehr bekanntes Lokal. Sozusagen der Treffpunkt der Pieds-Noirs. Stell Dir vor, man nennt uns hier jetzt nur noch die Pieds-Noirs. Als ob wir unser Leben lang in Schmieröl gewatet wären und davon schwarze Füße bekommen hätten … Wenn Du in Marseille bist, ruf mich an. Wird mir ein Vergnügen sein, Dir den Allerwertesten zu verklopfen, bis Dir die Ohren dröhnen. Sei umarmt von Dédé.«
    Die Rue des Frères-Julien war fünf Häuserblocks von meinem Hotel entfernt. Der Taxifahrer baute ein paar Extratouren ein, denn er setzte mich erst nach einer guten halben Stunde vor dem Palmier ab. Er musste schließlich auch seine Brötchen verdienen. Auf dem Platz wimmelte es von Menschen. Nach dem Sturm vom Vortag strahlte die Sonne jetzt wieder über Marseille. Auch die Gesichter der Menschen leuchteten. Das Haus mit der Nummer 143 , eingezwängt zwischen zwei modernen Gebäuden, war ein altes Gemäuer in verblichenem Grün, mit schmalen Fenstern hinter geschlossenen Läden. Blumentöpfe schmückten mehr schlecht als recht die trostlosen Balkons im Schatten welker Markisen … Diese Nummer 143 in der Rue des Frères-Julien berührte mich ganz eigentümlich. Es war, als sperrte sie sich gegen die Helligkeit des Tages, stünde den Freuden ihrer Straße feindlich gegenüber. Ich hatte Mühe, mir hinterderart tristen Fenstern eine fröhlich lachende Émilie vorzustellen.
    Ich setzte mich an einen Tisch gleich hinter der Panoramafront der Brasserie, mit freier Sicht auf das Kommen und Gehen im Haus gegenüber. Es war ein strahlender Sonntag. Der Regen hatte die Bürgersteige blank geputzt, und der Asphalt dampfte. Um mich herum diskutierten etliche Müßiggänger bei einem Glas Rotwein über den Zustand der Welt, und alle hatten sie den Akzent der algerischen Vorstädte. Ihre Gesichter waren noch von der Sonne Afrikas verbrannt, und das »R« rollten sie ganz genau so, wie man den Couscous rollt: voller Genuss. Ganz gleich, welche aktuelle weltpolitische Frage sie anschnitten, sie kamen unweigerlich auf Algerien zurück. Sie führten nichts anderes im Mund.
    »Weißt du, woran ich gerade denke, Juan? An das Omelett, das ich auf dem Herd vergessen habe, während ich in aller Eile Koffer packte. Ich frage mich bis heute, ob das Haus nach meinem überstürzten Aufbruch nicht abgebrannt ist.«
    »Ist das dein Ernst, Roger?«
    »Na klar. Du jammerst mir doch ständig die Ohren voll mit dem ganzen Zeugs, das du in der Heimat zurückgelassen hast. Kannst du nicht mal eine andere Platte auflegen?«
    »Wie soll das gehen, Roger? Algerien, das ist mein ganzes Leben.«
    »Wenn das so ist, kannst du dich ja gleich begraben lassen. Algerien ist futsch, und ich würd auch gern mal an was anderes denken!«
    An der Theke prosteten sich drei sturzbesoffene Baskenmützen im weinseligen Gedenken an die wilden

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