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Die Schuld des Tages an die Nacht

Titel: Die Schuld des Tages an die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yasmina Khadra
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Fußgänger zur Seite zu schieben, und schon wäre sie da, davon war ich felsenfest überzeugt. Ich war wie von Sinnen. Sah weder die Blutlachen auf den Bürgersteigen noch die Kugeleinschläge an den Wänden. Das Misstrauen der Leute berührte mich nicht. Ihre Feindseligkeit, ihre Verachtung, wohl auch ihre Beleidigungen prallten an mir ab, ohne meinen Schritt zu verlangsamen. Ich hatte nur sie im Kopf, ihre Augen als einzigen Horizont. Sie war das Schicksal, das ich mir auserwählt hatte, alles andere war mir egal.
    Fabrice Scamaroni sah mich eines Tages zufällig, wie ich durch ein Viertel irrte, in dem es nach Tod und Rachsucht stank. Er bremste neben mir ab, brüllte mich an, ich solle sofort einsteigen, und gab mit quietschenden Reifen Gas. »Bist du verrückt oder was? Dieses Viertel ist mörderisch!« – »Ich suche Émilie!« – »Wie willst du sie finden, wenn du noch nicht mal siehst, wo du deinen Fuß hinsetzt? Dieses verdammte Viertel ist gefährlicher als ein Minenfeld!«
    Fabrice wusste auch nicht, wo Émilie war. Sie hatte ihn kein einziges Mal bei seiner Zeitung besucht. Einmal hatte er sie zufällig in Choupot getroffen, aber das war Monate her. Er versprach mir, die Augen offen zu halten.
    In Choupot nannte man mir ein Gebäude am Boulevard Laurent-Guerrero. Die Concierge bestätigte mir, dass die fragliche Dame in der Tat im zweiten Stock gewohnt habe, doch dann nach einem Blutbad weggezogen sei.
    »Hat sie denn keine Nachsendeanschrift hinterlassen?«
    »Nein … Aber wenn mein Gedächtnis mich nicht trügt, hat sie dem Spediteur gesagt, er möge sie nach Saint-Hubert bringen.«
    Ich habe an alle Türen von Saint-Hubert geklopft. Ohne Erfolg. Wo war sie? Wo versteckte sie sich? Die Stadt stand kopf.
    DerWaffenstillstand vom 19 . März 1962 hatte die letzten Widerständler aus der Reserve gelockt. Es war der Kampf der Messer gegen die Maschinengewehre, der Granaten gegen Bomben, der Querschläger, die wahllos harmlose Passanten trafen. Und Émilie zog sich immer weiter zurück, je weiter ich vordrang durch Pulverdampf und Brandgeruch. War sie getötet worden? Opfer einer Explosion? Einer verirrten Kugel? Lag sie erdolcht und verblutet in irgendeinem Treppenhaus? Oran verschonte niemanden, ließ am langen Arm Menschen über die Klinge springen, scherte sich weder um Kinder noch Alte, weder um Frauen noch schlichte Gemüter, die ihren Halluzinationen nachhingen. Ich war zugegen, als auf der Tahtaha die beiden Autobomben hochgingen, die hundert Todesopfer in den Reihen der muslimischen Bevölkerung von M’dina J’dida forderten und Dutzende von Menschen verstümmelten; ich war zugegen, als man die Leichen von Europäern aus den verschmutzten Gewässern von Petit Lac herausfischte; ich war zugegen, als ein OAS -Kommando das städtische Gefängnis überfiel, um die gefangenen FLN -Kämpfer auf die Straße zu zerren und vor den Augen der Masse zu exekutieren; ich war zugegen, als Saboteure die Brennstoffdepots am Hafen sprengten und die Meerespromenade tagelang hinter dichten schwarzen Rauchschwaden verschwand. Und ich sagte mir, Émilie müsse doch dieselben Explosionen hören, denselben Schock verspüren, dieselbe Angst empfinden wie ich. Und ich verstand nicht, warum unsere Wege sich nicht kreuzten, warum der Zufall, die Vorsehung, das Schicksal – ach, was für ein Pech auch immer dafür sorgte, dass unsere Schultern sich inmitten des allgemeinen Verfalls vielleicht kurz streiften und wir es nicht einmal merkten. Ich war wütend auf die Tage, die einander hetzten und jede Spur löschten, die zu Émilie führte. War wütend, auf alle möglichen Schauplätze, alle möglichen Gestalten zu treffen, mich durch Feuergefechte und finstere Gassen, Mördergruben und Blutbäder hindurchzulavieren, ohne eine Spur, den Hauch einer Spur, die Illusion einer Spur zu finden, die mirerlaubten, den Faden bis zu Émilie aufzurollen und zu denken, sie sei noch von dieser Welt, während ein Wind der Panik durch die europäische Bevölkerung fuhr. In den Briefkästen fand man seltsame Päckchen, die ganze Familien mit blankem Entsetzen erfüllten. Die Saison war eröffnet, die unter dem Motto »Koffer oder Sarg« stand – la valise ou le cercueil . Die ersten Aufbrüche ins Exil fanden in unbeschreiblicher Anarchie statt. Auf Flughäfen und Fähren setzte ein ungeheurer Ansturm von Autos ein, die unter der Gepäcklast und der Tränenflut schier zusammenbrachen. Andere machten sich nach Marokko auf. Mancher

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