Die Schuld des Tages an die Nacht
zerriss.
»Schau lieber auf die Fahrbahn, statt herumzuquatschen, Coco!«, tönte es von hinten.
Der Fahrer nickte und hielt fortan den Mund.
Wieder zogen endlose Obstplantagen zu beiden Seiten der Straße vorbei. Orangenhaine und Weingärten eroberten im Wettstreit Hügel und Ebenen. Prachtvolle Gehöfte erhoben sich hier und da auf alles dominierenden Anhöhen, von einem Kranz prachtvoller Bäume und Gärten umringt. Die Wege dorthin waren von Ölbäumen oder hoch aufragenden Palmen gesäumt. Mitunter sah man einen Siedler, der zu Fuß von seinen Feldern heimkam oder im gestreckten Galopp einem unbekannten Glück entgegenritt. Dann tauchten zwischen den Hügeln jäh Elendshütten auf, als hätten sie es darauf angelegt, die Magie dieses Anblicks zu zerstören. Hütten, die unsäglich verkommen waren, von der Last der Armut und des bösen Fluches schier erdrückt. Manche hatten sich aus Scham hinter einer Mauer aus Kaktusfeigen verschanzt, und man konnte kaum ihre verfallenen Dächer erkennen, andere klammerten sich ans Felsgestein, ihre Türen ein zahnloses Maul, der Strohlehm ihrer Wände eine Totenmaske.
Und wieder drehte der Fahrer sich zu Germaine um und bemerkte:
»Wirklich verrückt, wie sehr Sie meiner Cousine Mélina ähneln, Madame.«
II . Río Salad o
8 .
RIO SALADO GEFIEL MIR SEHR – Flumen Salsum, wie der Ort bei den Römern hieß, heute El Maleh. Und er gefällt mir nach wie vor, ich kann mir kaum vorstellen, unter einem anderen Himmel alt zu werden oder fern der Geister, die ihn bevölkern, zu sterben. Río Salado war ein prachtvolles Kolonialdorf mit stattlichen Häusern und üppig begrünten Straßen. Der Platz, auf dem einst große Bälle stattfanden und wo die renommiertesten Musiker spielten, hatte seinen Steinfliesenteppich in nächster Nähe zum Rathaus entrollt. Hochstrebende Palmen rahmten ihn ein, die ein Band lampiongeschmückter Girlanden verband. Dort traten Aimé Barelli und Xavier Cugat mit seinem berühmten Chihuahua auf, der ihm stets vorwitzig aus der Tasche lugte, Jacques Hélian und Pérez Prado: legendäre Namen und Orchester, die Oran, die Hauptstadt Westalgeriens, sich trotz allem Weltstadtgehabe niemals leisten konnte. Río Salado trumpfte gerne auf, um die Prognosen Lügen zu strafen, die seinen Untergang auf ganzer Linie vorhergesagt hatten. Die herrschaftlichen Villen, die es mit keckem Eifer längs der Durchgangsstraße aufreihte, sollten dem Reisenden vor Augen führen, dass Angeberei eine Tugend ist, wenn sie Vorurteile entkräftet und die Mühen veranschaulicht, die es zu bewältigen gilt, um den Mond vom Himmel zu holen. In früheren Zeiten war hier nur trostlose Ödnis gewesen, nichts als Steine und Eidechsen. Nur selten verirrte sich einmal ein Hirte hierher, der gewiss kein zweites Mal seinen Fuß dorthin setzen würde, auf dieses Geländevoll Dornengestrüpp und toter Flussarme, wo Hyänen und Wildschweine den Ton angaben – kurzum, ein Stück Erde, das Menschen wie Engel mieden und das die Pilger so hastig durchquerten, als wäre der Teufel hinter ihrer Seele her … Dann hatten Herumtreiber und Vagabunden, größtenteils Spanier, die nicht mehr tiefer sinken konnten, ihr Auge auf diese räudige Gegend geworfen, die ein Abbild ihrer Misere war. Sie krempelten die Ärmel hoch und machten sich daran, die verwilderten Ebenen zu domestizieren. Sie setzten für jeden Mastixstrauch, den sie herausrissen, einen Rebstock in die Erde, schrieben jedem Stück Land, das sie vom Unkraut befreit hatten, die Umrisse eines Bauerngehöfts ein. Und Río Salado erwuchs aus diesem aberwitzigen Unternehmen wie das Grün, das auf dem Schlachtfeld keimt.
Gelassen thronte es inmitten seiner Weingärten und Kellereien – es mochte an die hundert zählen – und ließ sich genießen wie einer seiner Weine, während es zwischen zwei Lesen einer glückstrunkenen Zukunft harrte. Trotz eines eher kühlen Januars wehte unter seinem Himmel mit den Eischneewölkchen fortwährend eine Brise Sommer. Die Menschen verrichteten beschwingt ihre Arbeit und kamen bei Sonnenuntergang in der Kneipe auf ein Glas und ein wenig Tratsch zusammen; man konnte ihr Lachen oder ihre lautstarke Entrüstung meilenweit in der Umgebung hören.
»Du wirst dich hier wohl fühlen«, versprach mir mein Onkel, als er Germaine und mich an der Schwelle unseres neuen Zuhauses begrüßte.
Die Mehrheit der Einwohner von Río Salado waren Spanier und Juden, stolz darauf, jedes Gebäude eigenhändig errichtet und
Weitere Kostenlose Bücher