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Die Schuld des Tages an die Nacht

Titel: Die Schuld des Tages an die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yasmina Khadra
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einem von den Tieren zerwühlten Boden einen Rebensaft entlockt zu haben, dem selbst die Götter des Olymp verfallen wären. Es waren angenehme, spontane und offene Menschen. Sie liebten es, sich gegenseitig irgendwelche Dinge zuzurufen, die Hände trichterförmig um den Mund gelegt. Man hätte meinen können, sie seien alle demselben Schmelztiegel entstiegen, dennjeder schien alles über jeden zu wissen. Ganz anders als in Oran, wo man von einem Viertel ins andere wechselte im Gefühl, einen Zeitsprung zu machen oder gar den Planeten zu verlassen. In Río Salado herrschte eine Stimmung heiterer Ausgelassenheit, die sogar durch die Kirchenfenster drang, obwohl die Kirche ein wenig nach hinten versetzt rechts vom Rathaus stand, um die nächtlichen Feierer nicht zu stören.
    Mein Onkel hatte sich nicht geirrt. Río Salado war der richtige Ort, um wieder zu sich selbst zu finden. Unser Haus erhob sich am Osthang des Dorfs inmitten eines prächtigen Gartens und mit einem Balkon, der auf ein Meer von Reben hinausging. Es war ein großes, luftiges Haus mit hohen Räumen im Erdgeschoss. Dort war eine Apotheke untergebracht, zu der eine mysteriöse Hinterstube voller Regale und Geheimschränke gehörte. Eine Wendeltreppe führte zu einem riesigen Salon im ersten Stock, an den drei Schlafzimmer und ein Badezimmer angrenzten. Das Bad war rundum gekachelt; es gab eine gusseiserne Badewanne mit bronzenen Löwentatzen. Und ich war sogleich in meinem Element, als ich mich auf die sonnenüberflutete Balustrade stützte und den Blick schweifen ließ, der, vom Flug eines Rebhuhns gebannt, kaum mehr zurückkehren mochte.
    Ich war überglücklich. Ich, der ich mitten auf dem Land geboren war, entdeckte nach und nach all das wieder, was mir von früher her vertraut war, den Geruch der Feldarbeit, die Stille der Hügel. Ich spürte, wie mein bäuerliches Ich zu neuem Leben erwachte und war froh, dass meine städtische Kleidung meiner Seele nicht geschadet hatte. Die Stadt war nichts als Illusion gewesen, das Land verhieß dagegen wahre, sich stetig steigernde Empfindung – jeder Tagesanbruch erinnert an die Anfänge der Menschheit, jede Abenddämmerung ist wie der ewige Frieden. Ich schloss Río auf der Stelle ins Herz. Es hatte etwas von einem Ort himmlischer Gnade. Als wären in dieser Landschaft Götter und Titanen zur Ruhe gekommen. Alles wirkte so gelassen, wie von alten Dämonen befreit. Und wenn die Schakale nachts den Schlaf der Menschen störten, bekam manfast Lust, ihnen in die Tiefe der Wälder zu folgen. Manchmal trat ich dann auf den Balkon hinaus und versuchte, ihre vorbeihuschenden Silhouetten im krausen Weinlaub zu erkennen. Selbstvergessen horchte ich Stunde um Stunde auf das leiseste Geräusch und versenkte mich in die Betrachtung des Mondes, den ich fast mit den Wimpern hätte streifen können.
    … Und dann war da Émilie.
    Als ich sie zum ersten Mal sah, saß sie in der Toreinfahrt unserer Apotheke, die Mantelkapuze tief ins Gesicht gezogen, und fingerte an den Schnürsenkeln ihrer Stiefeletten herum. Ein schönes kleines Mädchen mit furchtsamen Augen von mineralischer Schwärze. Ich hätte sie nur zu gern für einen vom Himmel gefallenen Engel gehalten, hätte ihre marmorblasse Miene nicht von einer heimtückischen Krankheit gezeugt.
    »Guten Tag«, sprach ich sie an. »Kann ich dir helfen?«
    »Ich warte auf meinen Vater«, antwortete sie und rutschte zur Seite, um mich durchzulassen.
    »Du kannst drinnen warten. Es ist eiskalt auf der Straße.«
    Sie schüttelte den Kopf.
    Einige Tage später kam sie wieder, diesmal in Begleitung eines Kolosses, der aus einem Hinkelstein herausgehauen zu sein schien. Das war ihr Vater. Er vertraute sie Germaine an und wartete drinnen vor dem Ladentisch, so aufrecht und undurchdringlich wie ein Leitpfosten. Germaine ging mit dem Mädchen ins Hinterzimmer und brachte sie ein paar Minuten später zu ihrem Vater zurück. Der Mann legte einen Geldschein auf den Tresen, nahm das Mädchen bei der Hand, und beide gingen sie auf die Straße hinaus.
    »Was hast du mit ihr gemacht?«, fragte ich Germaine.
    »Ich habe ihr eine Spritze gegeben … wie jeden Mittwoch.«
    »Hat sie eine schlimme Krankheit?«
    »Das weiß nur Gott.«
    Am nächsten Mittwoch lief ich besonders schnell von der Schule nach Hause, um sie ja nicht zu verpassen. Und da saß sie, auf der Bank gegenüber dem Ladentisch, auf dem sich Schach telnund Fläschchen türmten. Sie blätterte zerstreut in einem großen

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