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Die Schuld des Tages an die Nacht

Titel: Die Schuld des Tages an die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yasmina Khadra
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böse.
    Ich wagte mich nicht zu ihr hinüber, um ihr zu sagen, dass ich ebenfalls unendlich traurig war. Stattdessen sah ich den Packern zu, die unsere Möbel und Kisten im Lastwagen ver stauten.Es war, als würden sie meine Götter und Schutzengel entbeinen.
    Germaine schubste mich in die Fahrerkabine. Der Laster dröhnte auf. Ich beugte mich vor, um Lucette zu sehen. Ich hoffte, ihre Hand käme hinter ihrem Rücken hervor, winkte mir zum Abschied zu, doch Lucette rührte sich nicht. Sie schien gar nicht zu merken, dass ich wegging. Oder vielleicht wollte sie es auch nicht wahrhaben.
    Der Laster fuhr los, und der Fahrer schob sich zwischen meine Freundin und mich. Ich renkte mir fast den Hals aus, um wenigstens den Hauch eines Lächelns zu erhaschen, den Beweis, dass sie einsah, dass das Ganze nicht meine Schuld war und ich ebenso unglücklich war wie sie. Vergebens. Die Straße zog unter blechernem Geschepper an uns vorbei und geriet schließlich außer Sichtweite.
    Adieu Lucette!
    Lange hatte ich geglaubt, es seien ihre Augen, die meine Seele mit sanfter Ruhe erfüllten. Heute ist mir klar, dass es nicht die Augen waren, sondern ihr Blick – ein milder und gütiger Blick, der, kaum erblüht, schon mütterlich wirkte, und der, wenn er mich traf …
    Río Salado lag rund sechzig Kilometer westlich von Oran. Noch nie war mir eine Reise so lang vorgekommen. Der Laster röchelte auf der Straße wie ein altes Kamel kurz vor dem Exitus. Bei jedem Schalten geriet der Motor ins Stottern. Der Fahrer trug eine Hose voller Schmierölflecken, und sein Hemd hatte auch schon bessere Tage erlebt. Mit kurzen Beinen und breiten Schultern, auf denen die Visage eines rekonvaleszenten Ringers thronte, chauffierte er uns schweigend, die behaarten Hände wie Taranteln ums Lenkrad geschlungen. Auch Germaine schwieg, an die Wagentür gedrückt, ohne einen Blick für die Obstplantagen, die beidseits des Fahrzeugs vorüberzogen. Ihre diskret im Schutz der Rockfalten verschränkten Finger verrieten mir, dass sie betete.
    Wirkämpften uns mühsam durch Misserghine, wo Karren und Fuhrwerke die Straße verstellten. Es war Markttag, und die Hausfrauen drängten sich vor den Ständen. Ein paar Beduinen, an ihren Turbanen erkennbar, boten ihre Dienste als Lastenträger an. Ein Ordnungshüter stolzierte über den Platz und wirbelte lässig mit seinem Schlagstock umher. Er grüßte untertänigst die Damen, den Schirm der Dienstmütze auf Höhe der Augenbrauen, und drehte sich dann, kaum waren sie vorübergegangen, mit wollüstigem Blick nach ihren Rundungen um.
    »Ich heiße Costa«, sagte da plötzlich der Chauffeur. »Meine Freunde nennen mich Coco.«
    Er warf Germaine einen verstohlenen Blick zu. Als sie höflich zurücklächelte, wurde er dreister:
    »Ich bin Grieche.«
    Plötzlich begann er, auf seinem Sitz herumzuzappeln.
    »Dieser Lastwagen gehört zur Hälfte mir. Sollte man nicht meinen, was? Aber es ist die reine Wahrheit. Nicht mehr lange, und ich bin mein eigener Chef, und dann rühre ich mich nicht mehr aus meinem Büro. Die beiden Jungs hinten drin, das sind Italiener. Die könnten einen kompletten Frachter in weniger als einem Tag entladen. Die sind schon als Möbelpacker auf die Welt gekommen.«
    Seine Augen, vor Speckfalten fast unsichtbar, funkelten.
    »Wissen Sie, dass Sie meiner Cousine Mélina ähnlich sehen, Madame? Vorhin, als ich ankam, dachte ich schon, ich hätte eine Vision. Wirklich verrückt, wie sehr Sie ihr ähneln. Dieselben Haare, dieselbe Augenfarbe, dieselbe Größe. Sie sind nicht zufällig griechischer Herkunft, Madame?«
    »Nein, Monsieur.«
    »Woher kommen Sie denn?«
    »Aus Oran. In der vierten Generation.«
    »Wow! Am Ende hat einer Ihrer Vorfahren noch das Schwert mit dem Schutzpatron der Araber gekreuzt … Ich bin erst seit fünfzehn Jahren in Algerien. Ich war Matrose. Wir haben hier Station gemacht. Und in einem Funduk habe ich dann Berthegetroffen. Da habe ich mir gesagt: Endstation. Ich habe Berthe geheiratet, und wir haben uns eine Bleibe in La Scalera gesucht … Oran ist wirklich eine schöne Stadt.«
    »Ja«, erwiderte Germaine traurig, »eine sehr, sehr schöne Stadt.«
    Der Fahrer riss das Lenkrad herum, um zwei Eseln auszuweichen, die mitten auf der Fahrbahn standen. Die Möbel hinten ächzten heftig, und die beiden Packer fluchten in einem höchst biegsamen Jargon. Der Fahrer lenkte den Lkw wieder auf die Fahrbahn zurück und beschleunigte so, dass es fast die Schläuche unter der Motorhaube

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