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Die Schuld des Tages an die Nacht

Titel: Die Schuld des Tages an die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yasmina Khadra
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wirklich zu spüren.«
    Dann sah sie mir tief in die Augen und verkündete:
    »Egal! Dann warten wir eben so lange, wie es nötig ist.«
    Isabelle besaß die Geduld derer, die überzeugt sind, dass die Zukunft ihnen gehört. Sie erklärte mir, ich sei der schönste Junge auf Erden und in meinem früheren Leben ganz sicher ein Märchenprinz gewesen, und sie habe mich zu ihrem Verlobten erwählt, weil ich ihrer ganz sicher würdig war .
    Wir haben uns nie wieder geküsst, aber fast täglich getroffen, um fernab des bösen Blicks die phantastischsten Pläne zu schmieden.
    Doch plötzlich, aus heiterem Himmel, zerbrach unsere Liebelei, als hätte ein Fluch sie getroffen. Es war an einem Sonntagvormittag, ich war zu Hause und langweilte mich. Mein Onkel, der wieder damit angefangen hatte, sich in seinem Schlafzimmer einzuschließen, stellte sich tot, und Germaine war in der Kirche. Mir fiel die Decke auf den Kopf, ich blätterte hier in einem Buch, versuchte mich da an einem Solitärspiel. Der Frühling zeigte sich von seiner schönsten Seite. Die Schwal benwaren früher zurückgekehrt und Río, das berühmt war für seine Blütenpracht, duftete überall nach Jasmin.
    Ich ging hinaus und ließ mich durch die Straßen treiben, ohne auf meine Schritte zu achten, die Hände auf dem Rücken verschränkt. Irgendwann landete ich vor dem Haus der Rucillios. Ich rief zu Isabelles Fenster hinauf. Wie üblich. Aber Isabelle kam nicht und machte mir nicht auf. Nachdem sie mich lange durch die Jalousien hindurch beobachtet hatte, schlug sie mit einem wütenden Knall die Fensterläden auf und schrie mich an:
    »Du Lügner!«
    Ihr harscher Ton und ihr glühender Blick gaben mir zu verstehen, dass sie mir fürchterlich böse war. Isabelle hatte immer diesen Blick und diesen Tonfall, wenn sie ihre Pfeile abschoss.
    Da ich keine Ahnung hatte, was sie mir vorwarf und auf diesen Empfang nicht im Geringsten vorbereitet war, verschlug es mir schlicht die Sprache.
    »Ich will dich nie wiedersehen!«, scholl es mir entgegen.
    Zum ersten Mal hörte ich sie jemanden duzen.
    »Warum?«, rief sie, von meiner Verblüffung nur noch mehr gereizt, »warum hast du mich angelogen?«
    »Ich habe Sie nie angelogen.«
    »Ach ja? Du heißt doch Younes, nicht wahr? You-nes ? Und warum lässt du dich dann Jonas nennen?«
    »Alle nennen mich doch Jonas. Was ändert das schon?«
    »Alles!«, brüllte sie und wäre fast erstickt. Ihr hochrotes Gesicht bebte vor Verachtung:
    »Das ändert alles!«
    Nachdem sie sich gefangen hatte, erklärte sie in einem Ton, der keinen Widerspruch zuließ:
    »Wir gehören verschiedenen Welten an, Monsieur Younes . Deine blauen Augen können da nichts ausrichten.«
    Bevor sie mir die Fensterläden vor der Nase zuschlug, schluckte sie verächtlich und stieß hervor:
    »Ich bin eine Rucillio, hast du das vergessen? Kannst du dir vielleichtvorstellen, dass ich einen Araber heirate? Da krepier ich doch lieber!«
    In einem Alter, in dem das Erwachen der Sinne für einen Jungen nicht minder schmerzhaft ist als die erste Blutung für ein Mädchen, ist das ein schwerer Schlag. Ich war schockiert und verwirrt, als sei ich aus einem Traumschlaf erwacht. Fortan änderte sich meine Wahrnehmung. So manches Detail, vom naiven Kinderblick weichgezeichnet bis zur Unkenntlichkeit, ist plötzlich gestochen scharf zu erkennen, setzt dir gnadenlos zu, und wenn du die Augen schließt, holt es dich in Gedanken ein, gierig, unerbittlich, Gewissensbissen gleich.
    Isabelle hatte mich aus dem goldenen Käfig genommen und in einen Brunnenschacht geworfen.
    Adam konnte sich nach der Vertreibung aus dem Paradies kaum verlassener gefühlt haben als ich, und der verhängnisvolle Apfel war nichts im Vergleich zu dem Kloß in meiner Kehle.
    Seit dieser Abfuhr achtete ich mehr auf meine Umgebung. Mir fiel vor allem eines auf: dass keine einzige Maurin mit wehendem Haik durch die Straßen unseres Orts flanierte und dass die zerlumpten Turbanträger, die von früh bis spät in den Obstplantagen schufteten, sich noch nicht mal an den Rand Río Salados vorwagten, das eifersüchtig über seine koloniale Reinheit wachte. Mein Onkel, den viele für einen Türken aus Tlem cen hielten, war der Einzige, dem es gelungen war, hier Fuß zu fassen – wer weiß aufgrund welchen Versehens.
    Isabelle hatte mich niedergestreckt.
    Unsere Wege hatten sich mehrfach gekreuzt. Sie ging an mir vorbei, ohne mich zu sehen, die Nase hochgehängt wie ein Schlachterhaken, und tat, als hätte

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