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Die Schuld des Tages an die Nacht

Titel: Die Schuld des Tages an die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yasmina Khadra
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Warum war mein Onkel verhaftet worden? Was war auf der Polizeiwache passiert? Warum schwieg er so hartnäckig und wollte keinem Menschen, nicht einmal Germaine, etwas von seinem Aufenthalt im Gefängnis erzählen? Doch was die Gemäuer beharrlich verschweigen, wird von der Straße früher oder später überall ausposaunt. Als kultivierter Mensch und eifriger Leser, der die Umwälzungen innerhalb der arabischen Welt aufmerksam verfolgte, hatte mein Onkel sich rein gedanklich mit der nationalen Frage befasst, die unter den gebildeten Muslimen immer weitere Kreise zog. Er hatte die Texte von Chakib Arslane auswendig gelernt und schnitt sämtliche militanten Zeitungsartikel aus. Er sammelte und klassifizierte sie, versah sie mit Anmerkungen und schrieb darüber endlose Abhandlungen. Vollständig absorbiert vom theoretischen Teil dieser politischen Umwälzungen, schien er die Risiken, die mit seinem Engagement verbunden waren, nicht richtig einschätzen zu können. Sein Beitrag zum Militantismus beschränkte sich auf die rhetorischen Höhen flüge,die Finanzierung der im Untergrund operierenden Gruppen, an der er sich beteiligte, und die heimlichen Treffen, die die Führer der Bewegung bei ihm organisierten. Er war mit ganzem Herzen Nationalist, dem Ideengut freilich stärker verbunden als der radikalen Aktion, wie die Mitglieder der PPA , der algerischen Volkspartei, sie pflegten, und hatte sich keine Sekunde lang ausgemalt, dass er je die Treppenstufen eines Kommissariats erklimmen oder die Nacht in Gesellschaft von Ratten und Missetätern in einer stinkenden Zelle verbringen könnte. In Wahrheit war mein Onkel Pazifist, ein abstrakter Demokrat, ein Kopflastiger, der an Reden, Flugblätter und Parolen glaubte und eine abgrundtiefe Abneigung gegen jede Form von Gewalt besaß. Er rechnete nicht im Entferntesten damit, dass die Polizei ihn, den gesetzestreuen Staatsbürger, der sich des sozialen Ranges, den seine Universitätsdiplome und sein Apothekerstatus ihm verliehen, höchst bewusst war, eines Tages aus seinem Wohnzimmer verschleppen könnte, wo er gemütlich im Sessel saß, die Füße auf dem Puff, und ganz in El Ouma , sein Parteiorgan, versenkte.
    Man erzählte sich, er sei schon in einem jämmerlichen Zustand gewesen, bevor er in den Mannschaftswagen stieg, und habe gleich beim ersten Verhör alles gestanden. So kooperativ sei er gewesen, dass man ihn ohne Auflagen entlassen habe – was er bis an sein Lebensende leugnen sollte. Die infame Nachrede setzte ihm derart zu, dass er darüber mehrfach den Verstand verlor.
    Als er wieder etwas klarer denken konnte, setzte mein Onkel Germaine von seinen Plänen in Kenntnis. Wir konnten unmöglich in Oran bleiben, wir mussten dringend das Terrain wechseln.
    »Die Polizei will mich gegen meine eigenen Leute einsetzen«, gestand er ihr zu Tode betrübt. »Kannst du dir das vorstellen? Wie kommen sie nur auf den Gedanken, aus mir einen Spitzel zu machen? Sehe ich vielleicht wie ein Verräter aus, Germaine?Um Himmels willen, bin ich etwa imstande, meine Gesinnungsgefährten ans Messer zu liefern?«
    Er erklärte ihr, dass er polizeilich erfasst sei und künftig unter Beobachtung stehe; dass man ihn aus nächster Nähe observieren würde und er somit Freunde und Verwandte in Gefahr zu bringen drohte.
    »Hast du wenigstens ein bestimmtes Ziel im Blick?«, fragte ihn Germaine, bekümmert, ihre Geburtsstadt verlassen zu müssen.
    »Wir werden uns in Río Salado niederlassen.«
    »Warum Río Salado?«
    »Das ist ein friedliches Örtchen. Ich war kürzlich dort, um zu sehen, wie die Chancen für eine Apotheke stehen. Ich habe im Parterre eines großen Hauses freie Apothekenräume gefunden …«
    »Willst du etwa alles hier in Oran verkaufen? Unser Haus, die Apotheke?«
    »Wir haben keine Wahl.«
    »Du lässt uns nicht die geringste Chance, eines Tages hierhin zurückzukehren, an den Ort unserer Träume …?«
    »Es tut mir aufrichtig leid.«
    »Und wenn es in Río Salado nicht gut läuft?«
    »Dann könnten wir nach Tlemcen oder Sidi Bel-Abbès gehen, oder in die Sahara. Gottes Erde ist groß, Germaine. Solltest du das vergessen haben?«
    Es war wohl meine Bestimmung, immer wieder fortzugehen und immer wieder einen Teil von mir zurückzulassen.
    Lucette stand vor ihrer Haustür, die Hände hinterm Rücken versteckt, die Schultern angelehnt. Sie hatte mir nicht glauben wollen, als ich ihr erzählte, wir würden wegziehen. Jetzt, wo der Lastwagen vor dem Haus stand, war sie mir

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