Die Schuld des Tages an die Nacht
Buch.
»Was liest du denn da?«
»Ein Bilderbuch über Guadeloupe.«
»Was ist Guadeloupe?«
»Eine große französische Insel in der Karibik.«
Ich näherte mich ihr auf Zehenspitzen, um sie nicht zu belästigen. Sie wirkte so zart und verletzlich.
»Ich heiße Younes.«
»Und ich Émilie.«
»Ich werde in drei Wochen dreizehn.«
»Ich bin im letzten November neun geworden.«
»Bist du sehr krank?«
»Ist nicht so schlimm, aber es ist lästig.«
»Was hast du denn?«
»Ich weiß nicht. Im Krankenhaus wissen sie es auch nicht. Die Medizin, die sie mir verschrieben haben, wirkt nicht.«
Germaine kam und holte sie, um ihr die Spritze zu geben. Émilie ließ ihr Bilderbuch auf der Bank zurück. Auf der Kommode daneben stand ein Blumentopf. Ich knipste eine Rose ab und schob sie ins Buch, bevor ich auf mein Zimmer ging.
Als ich wieder nach unten kam, war Émilie nicht mehr da.
Am folgenden Mittwoch kam sie nicht mehr wegen ihrer Spritze. In den Wochen danach auch nicht.
»Sie haben sie sicher im Krankenhaus behalten«, mutmaßte Germaine.
Als Émilie auch in den nächsten Wochen kein Lebenszeichen mehr von sich gab, verlor ich die Hoffnung, sie jemals wiederzusehen.
Später dann begegnete mir Isabelle, die Nichte von Pépé Rucillio, dem reichsten Mann von Río. Isabelle war ein hübsches Ding mit großen violettblauen Augen und langen glatten Haaren, die ihr bis zum Po reichten. Aber mein Gott, wie affektiert sie doch war! Sie blickte auf alle von oben herab. Nur wenn ihr Blick den meinen traf, wurde sie ganz klein, und wehe der Un vorsichtigen,die es wagte, mir zu nahe zu kommen. Isabelle wollte mich nur für sich allein. Ihre Eltern, hartgesottene Weinhändler, arbeiteten für Pépé, der gewissermaßen der Patriarch der Familie war. Sie wohnten in einer geräumigen Villa in der Nähe des israelitischen Friedhofs, in einer Straße, wo die Hausfassaden hinter üppigen Kaskaden von Bougainvilleen verschwanden.
Isabelle hatte, abgesehen vielleicht von einer ausgeprägten Vorliebe für Ordnung und Disziplin, kaum etwas von ihrer Mutter geerbt, einer schwierigen Französin, die angeblich einer verarmten Familie entstammte und keine Gelegenheit ungenutzt ließ, ihren Verleumdern das Lästermaul unter Hinweis auf ihr blaues Blut zu stopfen. Nein, Isabelle war ganz und gar das Ebenbild ihres Vaters, eines Katalanen mit mattem, fast braunem Teint. Sie hatte sein Gesicht mit den hervorstehenden Wangenknochen, denselben schmalen Mund und denselben stechenden Blick. Sie war erst dreizehn, doch sie trug die Nase hoch und wusste genau, was sie wollte und wie sie es bekam. Über ihren Umgang wachte sie ebenso kritisch wie über das Bild, das sie abgeben wollte. Sie sei in ihrem früheren Leben Burgfräulein gewesen, vertraute sie mir an.
Sie war es auch, die mich eines Tages auf dem Platz – es wurde das Kirchweihfest begangen – ausfindig gemacht hatte. Sie war auf mich zugekommen und hatte mich gefragt: »Sind Sie Jonas?« Sie siezte alle Welt, groß und klein, und legte Wert darauf, genauso behandelt zu werden. Ohne eine Antwort abzuwarten, hatte sie anschließend verfügt: »Am Donnerstag habe ich Geburtstag. Sie sind herzlich eingeladen.« Schwer zu sagen, ob das nun eine Bitte oder ein Befehl war. Als ich mich am bewussten Donnerstag im allgemeinen Trubel ein wenig verloren fühlte, denn der Patio wimmelte nur so von Cousins und Cousinen, packte Isabelle mich am Ellenbogen und stellte mich ihrer Sippe vor: »Das ist mein Lieblingskamerad!«
Meinen ersten Kuss verdanke ich ihr. Es war bei ihr zu Hause im Wohnzimmer, in der Tiefe eines Alkovens zwischen zwei Fenstertüren.Isabelle spielte mit durchgedrücktem Kreuz und erhobenem Kinn Klavier. Ich saß neben ihr auf der Bank und betrachtete ihre schmalen Finger, die wie Irrlichter über die Tasten huschten. Sie hatte wirklich Talent. Plötzlich unterbrach sie sich und klappte mit äußerster Behutsamkeit den Deckel zu. Nach kurzem Zögern oder besser gesagt kurzer Meditation drehte sie sich zu mir um, nahm mein Gesicht in beide Hände, legte ihre Lippen auf meine und schloss wissend die Augen.
Der Kuss kam mir wie eine halbe Ewigkeit vor.
Irgendwann schlug Isabelle die Augen wieder auf und wich leicht zurück.
»Und? Haben Sie etwas gespürt, Monsieur Jonas?«
»Nein«, erwiderte ich wahrheitsgemäß.
»Ich auch nicht. Seltsam, im Kino kam es mir immer so großartig vor … Ich schätze, wir müssen abwarten, bis wir erwachsen sind, um die Dinge
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