Die Schuld des Tages an die Nacht
war mein ganzer Enthusiasmus verpufft. Anstelle von Pilgern sah ich nur noch Verdammte in Trance, und die Hölle war mir noch nie so nahe erschienen wie an jenem Tag der großen Gebete. Seit meiner Geburt hatte man mich vor Gotteslästerung gewarnt. Man musste sie gar nicht aussprechen, um der Strafe gewärtig zu sein; das bloße Anhören war schon Sünde. Lucette spürte meine Verwirrung. Ich merkte, dass sie ihrem Vater böse war, aber ich verkniff es mir, ihr verlegenes Lächeln zu erwidern. Ich wollte nur noch nach Hause.
Wir nahmen den Bus in die Stadt zurück. Die engen Windungen der Küstenstraße, die zum Altstadtkern führte, verstärkten mein Unwohlsein. Mir war in jeder Kurve, als müsste ich mich gleich übergeben. Normalerweise bummelten Lucette und ich noch gern im Viertel La Scalera herum, aßen eine Paella oder einen Caldero in einem der kleinen spanischen Lokale oder kauften den sephardischen Handwerkern im Derb, dem jüdischen Viertel, eine Kleinigkeit ab. An jenem Tag aber hatten wir keine Lust dazu. Jérômes hohe Gestalt überschattete noch meine Sorgen. Ich fürchtete, seine »Gotteslästerung« könne das Unglück auf mich ziehen.
Wir hatten die Straßenbahn bis zur europäischen Stadt genommen und waren dann zu Fuß weitergegangen, direkt zu unserem Viertel. Das Wetter war schön, die Sonne Orans überbot sich selbst. Dennoch fühlte ich mich fremd inmitten der strahlenden Lichter und heiteren Sprüche, die allenthalben zu hören waren. Lucette konnte mir noch so sehr die Hand drücken, sie schaffte es nicht, mich zur Besinnung zu bringen …
Undwas ich die ganze Zeit schon befürchtet hatte, traf mich mit aller Wucht. Unsere Straße wimmelte von Menschen. Auf den Gehwegen standen die Nachbarn, mit verschränkten Armen, manche strichen sich nachdenklich über die Wange.
Jérôme warf einem Mann in kurzen Hosen, der, in den Hauseingang gezwängt, seinen Garten wässerte, einen fra genden Blick zu. Der Mann drehte den Hahn zu, legte den Schlauch auf den Kiesweg, wischte sich die Hände am Unterhemd ab und breitete zum Zeichen seiner Unwissenheit die Arme aus:
»Da liegt bestimmt ein Irrtum vor. Die Polizei hat den Apotheker, Monsieur Mahi, verhaftet. Sie haben ihn gerade in ei nem Mannschaftswagen abtransportiert. Die Polypen wirkten ziemlich ungemütlich.«
Mein Onkel wurde nach einer Woche Haft auf freien Fuß gesetzt. Nach Hause wagte er sich erst im Schutz der Dunkelheit und lief im Schatten der Mauern entlang. Mit eingefallenen Wangen und stumpfem Blick. Die paar Tage im Gefängnis hatten ihn völlig verwandelt. Er war kaum wiederzuerkennen. Die Bartstoppeln ließen sein Gesicht noch faltiger erscheinen und verliehen ihm, der ohnehin so verloren wirkte, etwas Gespenstisches. Als hätte man ihn ausgehungert und nächtelang am Einschlafen gehindert.
Germaines Erleichterung verflog nach der ersten Wiedersehensfreude. Sie merkte bald, dass man ihr ihren Mann nicht unversehrt zurückgegeben hatte. Mein Onkel war völlig verstört. Er verstand nicht gleich, was man ihm sagte, und sprang vor Schreck an die Decke, wenn Germaine ihn fragte, ob er etwas brauche. Nachts hörte ich ihn ruhelos durchs Zimmer wandern, wobei er unverständliche Flüche ausstieß. Manchmal, wenn ich im Garten zum Fenster im ersten Stock hochsah, erriet ich hinter dem Vorhang seine Silhouette. Mein Onkel überwachte pausenlos die Straße, als rechne er damit, Höllendämone aufkreuzen zu sehen.
Germaine nahm die Familienangelegenheiten in die Hand undkümmerte sich auch selbst um die Apotheke. Da sie überall zugleich gefordert war, blieb es nicht aus, dass sie mich vernachlässigte. Der geistige Zustand ihres Mannes verschlechterte sich zusehends, und seine kategorische Weigerung, sich von einem Arzt untersuchen zu lassen, machte ihr größte Angst. Manchmal ließen die Nerven sie im Stich, und sie brach mitten im Wohnzimmer in Tränen aus.
Fortan wurde ich von Jérôme zur Schule gebracht. Jeden Morgen erwartete mich Lucette vor unserer Tür, vergnügt, die Zöpfe mit Schleifen geschmückt. Sie nahm mich bei der Hand und nötigte mich zu laufen, um ihren Vater weit vorn auf der Straße einzuholen.
Ich dachte, mein Onkel würde sich innerhalb weniger Wochen erholen, doch sein Zustand wurde immer schlimmer. Er schloss sich in sein Zimmer ein und weigerte sich zu öffnen, wenn jemand klopfte. Es war, als hätte ein böser Geist das Regiment im Haus übernommen. Germaine war verzweifelt. Und ich verstand gar nichts.
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