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Die Schuld des Tages an die Nacht

Titel: Die Schuld des Tages an die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yasmina Khadra
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und fand teilweise zu alten Ge wohnheitenzurück: seiner Leidenschaft für Bücher. Er konsumierte sie ohne Unterlass, verschlang sie geradezu, klappte einen Roman nur zu, um gleich darauf einen Essay aufzuschlagen. Er las in beiden Sprachen, wechselte übergangslos von El Akkad zu Flaubert. Er ging zwar noch immer nicht aus dem Haus, aber er hatte begonnen, sich wieder täglich zu rasieren und korrekt zu kleiden. Er nahm seine Mahlzeiten mit uns zusammen im Esszimmer ein und wechselte mitunter sogar ein paar höfliche Sätze mit Germaine. Er war weniger fordernd als zuvor und brüllte nicht mehr wegen jeder Bagatelle im Haus herum. Sein Tagesablauf war geregelt wie ein Uhrwerk. Er stand im Morgengrauen auf, verrichtete sein Gebet, saß um Punkt sieben am Frühstückstisch, dann zog er sich in sein Arbeitszimmer zurück, bis ich ihm die Zeitung brachte. Er überflog die neuesten Meldungen, dann öffnete er sein Ringbuch, tauchte seine Feder ins Tintenfass und schrieb bis mittags. Um dreizehn Uhr genehmigte er sich eine kleine Siesta; dann griff er nach einem Buch und vergaß seine Umwelt bis zum Einbruch der Nacht.
    Eines Tages suchte er mich in meinem Zimmer auf.
    »Diesen Autor hier musst du unbedingt lesen. Er heißt Malek Bennabi. Als Mensch ist er etwas dubios, aber sein Geist ist glasklar.«
    Er legte mir ein Buch auf den Nachttisch und wartete darauf, dass ich es von selbst in die Hand nahm. Das tat ich. Es war ein Buch von knapp hundert Seiten, und es hieß: Die Bedingungen der algerischen Wiedergeburt .
    Bevor er ging, sagte er noch:
    »Und vergiss nie, was im Koran geschrieben steht: ›Wer einen Menschen tötet, der tötet die ganze Menschheit.‹«
    Er hat mich nie gefragt, ob ich Bennabis Buch auch gelesen hatte, erst recht nicht, was ich davon hielt. Bei Tisch wandte er sich ausschließlich an Germaine.
    Das Haus fand zu einer gewissen Balance zurück. Es war noch nicht eitel Freude und Sonnenschein, aber meinen Onkel zu er leben,wie er sich vor dem Schrankspiegel die Krawatte umband, war an sich schon ein kleines Wunder. Wir hofften, er würde eines Tages den Schritt über die Schwelle nach draußen wagen und in die Welt der Lebenden zurückkehren. Die alltäglichen Straßengeräusche, ein Cafébesuch oder ein Plausch auf einer Parkbank im Freien, all das würde ihm guttun. Germaine riss mit Absicht alle Fenstertüren weit auf. Sie träumte davon, dass er seinen Fes zurechtrücken, seine Weste glattstreichen, einen Blick auf seine Taschenuhr werfen und eiligen Schrittes das Haus verlassen würde, um ein paar Freunde zu treffen, die ihn auf andere Gedanken brächten. Doch mein Onkel fürchtete die Menge. Er hatte eine krankhafte Angst vor menschlichem Kontakt und wäre in Panik ausgebrochen, wenn ihm auf dem Bürgersteig jemand begegnet wäre. Er fühlte sich nur zu Hause geborgen.
    Germaine war überzeugt, ihr Mann würde noch titanische Anstrengungen unternehmen, um sich wieder ganz in den Griff zu bekommen.
    Doch ach! Eines Sonntags, während wir noch beim Mittagessen saßen, schlug mein Onkel plötzlich mit der Faust auf den Tisch, Gläser und Teller flogen klirrend zu Boden. Wir fürchteten, es sei wieder ein Herzanfall, aber das war es nicht. Mein Onkel stand auf, warf den Stuhl krachend um, wich bis zur Wand zurück und rief mit anklagend erhobenem, auf uns gerichtetem Zeigefinger:
    »Kein Mensch hat das Recht, über mich zu richten!«
    Germaine sah mich verdutzt an:
    »Hast du etwas zu ihm gesagt?«
    »Nein.«
    Sie musterte ihren Mann, als stünde da ein Fremder:
    »Kein Mensch richtet über dich, Mahi.«
    Mein Onkel meinte nicht uns. Sein Blick ging durch uns hindurch ins Leere. Er runzelte die Stirn, als sei er jäh aus einem bösen Traum erwacht, rückte den Stuhl wieder zurecht, setzte sich, vergrub den Kopf in beiden Händen und rührte sich nicht mehr vom Fleck.
    Gegendrei Uhr nachts wurden wir beide, Germaine und ich, durch einen lautstarken Disput aus dem Schlaf gerissen. Mein Onkel stritt sich in seinem Arbeitszimmer hinter doppelt verriegelter Tür mit einem Eindringling. Ich rannte schnell nach unten, um zu sehen, ob die Haustür offen stünde oder jemand auf der Straße sei. Die Haustür war verschlossen, und sämtliche Riegel vorgeschoben. Ich ging wieder hoch. Germaine versuchte, durchs Schlüsselloch zu erkennen, was im Arbeitszimmer vor sich ging, aber der Schlüssel hinderte sie daran.
    Mein Onkel war außer Rand und Band.
    »Ich bin kein Feigling!«, schrie er. »Ich habe

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