Die Schuld des Tages an die Nacht
für mich fand das alles in einer Parallelwelt statt. Hin- und hergerissen zwischen der Treue zu meinen Freunden und der Solidarität mit den Meinen , spielte ich auf Zeit. Es war schon klar, dass ich nach allem, was im Constantinois passiert war, und nach dem Aufwachen der muslimischen Massen auf lange Sicht nicht umhinkommen würde, mich für ein Lager zu entscheiden. Und wenn ich mich weigerte, nähmen mir die Ereignisse die Entscheidung ab. Die Wut war nicht mehr aufzuhalten, sie hatte die geheimen Stätten verschwörerischer Zusammenkunft längst verlassen und ergoss sich in die Straßen, sickerte in die unterprivilegiertenRandzonen der Gesellschaft ein, drang in die Negerdörfer und die entlegensten Nester vor.
Unsere Viererbande bekam von diesem Wandel nichts mit. Wir waren inzwischen zu jungen Männern gereift, glücklich, endlich zwanzig zu sein. Wohl war der Flaum auf unserer Oberlippe noch zu dünn, um als Schnurrbart durchzugehen, doch unterstrich er unübersehbar unseren Willen, erwachsen und unser eigener Herr zu sein. Unzertrennlich wie die Forkenzinken lebten wir für uns allein, und zu viert waren wir schon die Welt.
Fabrice erhielt den ersten Preis beim nationalen Poesiewettbewerb. Madame Scamaroni fuhr mit uns vieren nach Algier, um an der Feier teilzunehmen. Der Gewinner schwebte auf rosaroten Wolken. Er bekam nicht nur ein ansehnliches Preisgeld, die Jury unterstützte auch die Publikation des prämierten Bandes bei Edmond Charlot, einem bedeutenden Verleger in Algier. Madame Scamaroni quartierte uns in einem netten kleinen Hotel unweit der Rue d’Isly ein. Nach der Preisverleihung durch Max-Pol Fouchet persönlich spendierte uns die Mutter des Preisträgers ein üppiges Festmahl mit frischem Fisch und Meeresfrüchten in einem wundervollen Restaurant im Fischerhafen La Madrague. Am nächsten Morgen konnten wir es kaum erwarten, in unser geliebtes Río zurückzukommen, wo der Bürgermeister zu Ehren des örtlichen Wunderkinds einen kleinen Umtrunk organisieren wollte; wir machten nur kurz Rast in Orléansville, um uns zu stärken, und in Perrigault, wo wir uns mit Orangen – den schönsten Orangen der Welt – eindeckten.
Einige Monate später lud uns Fabrice zu einem Buchhändler nach Lourmel, einem Kolonialdorf nicht weit von Río, ein. Seine Mutter war schon da. Sie sah hinreißend aus in ihrem granatroten Kostüm und dem stolz wippenden Federhut. Der Buchhändler und einige örtliche Größen hatten sich in feierlicher Pose hinter einem großen Ebenholztisch aufgebaut, mit einem wohlwollenden Lächeln auf den Lippen. Auf dem Tisch dickeStapel druckfrischer Bücher, eben erst aus ihren Kartons befreit. Und auf dem Umschlag, über einem ansprechenden Titel in Kursivdruck, der Name: »Fabrice Scamaroni«.
»Donnerlittchen!«, rief Simon, wie immer keinen Fettnapf scheuend, um der Zeremonie ihren steifen Ernst zu nehmen.
Nachdem die Vorstellung beendet und alle Ansprachen gehalten waren, stürzten Simon, Jean-Christophe und ich uns auf den Gedichtband und blätterten ihn voller Entzücken durch, streichelten ihn, drehten und wendeten ihn andächtig hin und her, derart begeistert, dass Madame Scamaroni die kleine Träne nicht mehr zurückhalten konnte, die ihr mitsamt aufgelöstem Lidstrich über die Wange kullerte.
»Ich habe Ihr Werk mit großem Genuss gelesen, Monsieur Scamaroni«, bemerkte ein Sechzigjähriger. »Sie haben echtes Talent und die besten Aussichten, der Poesie, die schon immer die heimliche Seele unserer schönen Gegend war, zu ihrem verdienten Ansehen zu verhelfen.«
Der Buchhändler überreichte dem Autor ein Glückwunschschreiben von Gabriel Audisio, Gründer der Zeitschrift Rivages , der ihm eine Mitarbeit anbot.
In Río Salado kündigte der Bürgermeister die Eröffnung einer Bibliothek auf der Hauptstraße an, und Pépé Rucillio kaufte im Alleingang hundert Exemplare von Fabrice’ Band, die er alsbald an seine sämtlichen Bekannten in Oran verschickte. Er hatte sie nämlich im Verdacht, ihn hinterrücks als Bauern im Sonntagsstaat zu verspotten und wollte ihnen beweisen, dass es in seinem Dorf nicht nur reiche, tumbe Winzer und Trunkenbolde gab.
Der Winter zog sich eines Abends auf Zehenspitzen zurück, um dem jungen Frühling Platz zu machen. Am nächsten Morgen zierten die Schwalben wieder die Stromleitungen, und durch die Straßen von Río Salado schwebten tausend Düfte. Mein Onkel kehrte nach und nach ins Leben zurück. Er hatte eine gesunde Gesichtsfarbe
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