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Die Schuld des Tages an die Nacht

Titel: Die Schuld des Tages an die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yasmina Khadra
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ihn.
    »Die Wahrheit … Sobald sie hört, dass du in der Nähe bist, wird sie unberechenbar. Sie hält überall nach dir Ausschau und beruhigt sich erst, wenn sie dich entdeckt hat … Wenn du sie auf dem letzten Ball gesehen hättest! Sie hing an meinem Arm, dann kamst du, und gleich hat sie angefangen, sich unmöglich aufzuführen, nur um deine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Ich hätte ihr fast eine geknallt, um sie zur Ordnung zu rufen.«
    »Liebe macht blind, Chris, aber Eifersucht verblendet!«, erwiderte ich.
    »Ja, eifersüchtig bin ich, das stimmt, aber deshalb halluziniere ich noch lange nicht.«
    »Jetztmal halblang!«, schaltete Fabrice sich ein, der spürte, dass es allmählich brenzlig wurde. »Isabelle manipuliert ihre Leutchen nach Strich und Faden, Chris. Sie stellt dich auf die Probe, das ist alles. Wenn sie dich nicht liebte, hätte sie dir schon längst den Laufpass gegeben.«
    »Jedenfalls bin ich der Angeschmierte. Wenn meine Herzensdame mir sowieso bloß über die Schulter schaut, verschwinde ich am besten aus ihrem Blickfeld. Und ehrlich gesagt glaub ich kaum, dass ich noch starke Gefühle für sie hege.«
    Ich fühlte mich gar nicht wohl in meiner Haut. Es war das erste Mal, dass ein Zwist die Stimmung in unserer Clique trübte. Wie erleichtert war ich, als Jean-Christophe plötzlich mit dem Finger auf mich zeigte:
    »Paff! Jetzt habe ich dich aber reingelegt, was? Und du bist voll drauf reingefallen.«
    Niemand fand das spaßig. Wir waren überzeugt, dass es Jean-Christophes bitterer Ernst gewesen war.
    Als ich am nächsten Tag mit Simon die Straße zum Dorfplatz entlangging, sahen wir Isabelle, die am Arm von Jean-Christophe hing. Sie wollten ins Kino. Ich weiß nicht, warum, aber ich habe mich sofort in einem Hauseingang versteckt, um nicht von ihnen gesehen zu werden. Simon war erst überrascht, aber dann verstand er mich.

III . Émili e

12 .
    ANDRÉ LUD DIE GESAMTE DORFJUGEND von Río Salado zur Eröffnung seiner Bar ein. Kein Mensch hätte damit gerechnet, den Sohn von Jaime J. Sosa je an einem solchen Ort zu treffen. Man stellte ihn sich eher als feudalen Typen in Reitstiefeln vor, mit kerzengeradem Rücken, herrisch und unduldsam, der den Erntehelfern mit der Reitpeitsche den Hintern versohlt und den Olymp für sich allein reklamiert … Ihn als Inhaber einer Kneipe zu sehen, der die Bierflaschen über die Theke schob, verschlug uns die Sprache. Tatsächlich war er seit seiner Rückkehr aus den Vereinigten Staaten, wo er in Begleitung seines Freundes Joe eine atemberaubende Rundreise absolviert hatte, wie ausgewechselt. In Amerika hatte er eine Lebensform kennengelernt, mit der wir keinerlei Berührung hatten und die er mit vagem mystischem Enthusiasmus den »amerikanischen Traum« nannte. Wenn man ihn fragte, was genau er darunter verstand, blies er die Backen auf, wiegte sich hin und her und antwortete, wobei er den Mund verzog: sein Leben so zu führen, wie es einem gefällt, und dafür nötigenfalls alle Tabus und Konventionen über Bord zu werfen. André hatte sicherlich eine klare Vorstellung von dem, was er uns zu vermitteln suchte, nur dass seine Erziehungsmethode zu wünschen übrigließ. Immerhin wurde sein Wille deutlich, mit den provinziellen Gepflogenheiten aufzuräumen, die wir von den Älteren übernommen hatten. Brav zu gehorchen, sich nur zu rühren, wenn man dazu aufgefordert wurde, nur zum Feiern aus unseren Löchern zu kommen:All das war für André undenkbar. Für ihn zeichnete sich eine Gesellschaft durch den Schwung und das Ungestüm ihrer Jugend aus, erneuerte sich dank deren unverbrauchter Frische und Frechheit. Bei uns hingegen war die Jugend eine fügsame Herde, an die Leitsätze einer längst verflossenen Epoche angepflockt, was so gar nicht zum Eroberergeist einer hemmungslosen Moderne passte, die nach Wagemut rief und verlangte, dass man Feuer sprühte oder selbiges gar legte. Wie in Los Angeles, San Francisco oder New York geschehen, wo die Jugend seit Kriegsende damit begonnen hatte, dem sakrosankten kindlichen Respekt zu entsagen, das Joch der Familie abzuschütteln und zu erproben, wie weit die eigenen Flügel trugen – auf die Gefahr hin, wie Ikarus zu enden.
    André war überzeugt, dass der Wind sich gerade drehte und fortan in die Richtung blies, welche die Amerikaner den Menschen und Dingen vorgaben. Für ihn war ein Land umso gesünder, je ausgeprägter seine Lust auf Revolution und Eroberung war. Doch in Río Salado folgte eine Generation

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