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Die Schuld des Tages an die Nacht

Titel: Die Schuld des Tages an die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yasmina Khadra
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denn?«
    »Nicht sehr weit, mach dir keine Sorgen. Hinter dem Hügel mit den beiden Marabouts. Ich komme schon zurecht.«
    »Ich lass nicht zu, dass du dir den Fuß noch weiter ruinierst. Ich hole nur schnell mein Fahrrad, bin gleich wieder da.«
    »O nein, Jonas. Du hast Sinnvolleres zu tun, als mich nach Hause zu begleiten.«
    »Keine Widerrede …!«
    Ich dachte, in Djenane Djato hätte ich schon in den Abgrund menschlichen Elends geblickt. Ich hatte mich getäuscht. Das Elend, das in dem Douar herrschte, wo Djelloul mit seiner Familie wohnte, war grenzenlos. Der Weiler zählte ein Dutzend schmutziger Lehmhütten in einem toten Flussbett, umgeben von Verschlägen, in denen einigen klapperdürren Ziegen die Zeit lang wurde. Es stank alles so furchtbar, dass ich mir nicht vorstellen konnte, wie ein Mensch es dort überhaupt aushalten sollte. Außerstande, mich weiter vorzuwagen, hielt ich am Rand der Piste an und half Djelloul vom Rad. Der Hügel mit den beiden Marabouts war nur ein paar hundert Meter von Río Salado entfernt, doch ich erinnerte mich nicht, je in diese Gegend vorgedrungen zu sein. Die Leute hielten sich von hier fern. Als läge auf der Gegend ein böser Fluch. Plötzlich bekam ich es mit der Angst zu tun, nur weil ich hier war, auf der anderen Seite des Hügels; Angst, nicht mit heiler Haut davonzu kommen,überzeugt, dass, falls mir etwas zustoßen sollte, kein Mensch hier nach mir suchen würde, wo ich keinen Grund hatte, mich aufzuhalten. Es war absurd, aber die Angst war ganz stark und sehr real. Der Weiler jagte mir plötzlich Entsetzen ein. Und dieser infernalische Gestank, fast nach Verwesung.
    »Komm mit!«, sagte Djelloul, »ich stell dich meinem Vater vor.«
    »Nein!«, wehrte ich erschrocken ab. »Ich muss gleich wieder zu meinem Onkel zurück. Er ist sehr krank.«
    Nackte Kinder mit aufgedunsenen Bäuchen und von Fliegen umlagerten Nasenlöchern spielten im Staub – ja, neben dem Gestank gab es auch noch das Surren der Fliegen, ein gefräßiges, penetrantes Surren, das die verpestete Luft mit einer makabren Litanei erfüllte: einem höllischen Atem, über einer menschlichen Verzweiflung schwebend, die so alt wie die Welt war und genauso deprimierend. Am Fuß eines Stampflehmmäuerchens dämmerten neben einem dösenden Esel ein paar Greise mit offenem Mund vor sich hin. Ein Dorfnarr, die knochigen Arme gen Himmel gereckt, betete zu einem Marabout-Baum voll bunter Talismanbänder, bekleckert mit Kerzenwachs … Mehr gab’s nicht zu sehen; man hätte meinen können, alle Gesunden seien ausgewandert und hätten das Nest den faunsgesichtigen Bälgern und den Halbtoten überlassen.
    Eine Hundemeute hatte uns aufgestöbert und kam kläffend auf mich zugestürzt. Djelloul verscheuchte sie mit Steinwürfen. Nachdem wieder Ruhe eingekehrt war, sah er mich mit einem eigentümlichen Lächeln an:
    »So leben die Unseren, Jonas. Die Unseren sind auch die Deinen. Nur dass sie nicht dort ansässig sind, wo du es dir gutge hen lässt … Was hat du denn? Warum sagst du nichts? Bist du schockiert? Du hältst das nicht für möglich, was du hier siehst, stimmt’s …? Ich hoffe, dass du jetzt verstehst, warum ich vom Hundeleben rede. Obwohl kein Tier es hinnehmen würde, so tief zu fallen …«
    Ichwar fassungslos. Es stank so bestialisch, dass sich mir der Magen umdrehte, und das Gesurr der Fliegen bohrte sich mir ins Gehirn. Ich wollte kotzen, aber ich fürchtete, Djelloul könne mir das übelnehmen.
    Djelloul grinste, mein Unwohlsein belustigte ihn.
    Er zeigte auf das Dorf:
    »Sieh dir dieses elende Loch nur gut an. Das ist unser Platz in diesem Land, dem Land unserer Vorfahren. Sieh gut hin, Jonas. Selbst Gott ist hier noch nie vorbeigekommen.«
    »Warum sagst du so furchtbare Dinge?«
    »Weil ich sie denke. Weil es die Wahrheit ist.«
    Meine Unruhe wuchs. Diesmal war es Djelloul, der mir mit seinem stechenden Blick und seinem höhnischen Grinsen Angst einjagte.
    Ich stieg auf mein Fahrrad und wendete.
    »Nur zu, Younes . Wende der Wahrheit der Deinen nur den Rücken zu und fahr schnell zu deinen Freunden zurück … Younes … Ich hoffe, du erinnerst dich wenigstens noch an deinen Namen … He! Younes … Danke für das Geld. Ich verspreche dir, ich geb’s dir bald zurück. Die Welt ändert sich, hast du das nicht gemerkt?«
    Ich trat wie ein Wilder in die Pedale, während Djellouls Schreie mir wie Warnschüsse in den Ohren gellten.
    Djelloul täuschte sich nicht. Die Dinge änderten sich, aber

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