Die Schuld des Tages an die Nacht
Germaine lehnte höflich ab, sagte, das würde sie übernehmen, und dankte ihr für alles.
Zwei Tage später, ich saß gerade am Krankenbett meines Onkels, hörte ich, wie draußen jemand nach mir rief. Ich ging ans Fenster und sah eine geduckte Silhouette hinter einem Erdhügel. Sie erhob sich und winkte mir zu. Es war Djelloul, Andrés Dienstbursche.
Erstals ich auf der Piste anlangte, die unser Haus von den Weinfeldern trennte, kam er aus seinem Versteck.
»Mein Gott!«, schrie ich, als ich ihn sah.
Djelloul hinkte. Sein Gesicht war verschwollen, seine Lippen aufgeplatzt, und er hatte ein blaues Auge. Sein Hemd wies rötliche Streifen auf, vermutlich von Peitschenhieben.
»Wer hat dich bloß so zugerichtet?«
Djelloul schaute sich erst um, als hätte er Angst, jemand könne ihn hören; dann sah er mir in die Augen und erwiderte mit schneidender Schärfe:
»André.«
»Warum? Was hast du getan?«
Er lächelte, meine Frage fand er abwegig:
»Ich muss doch nichts falsch machen, damit er mich misshandelt. Er findet immer einen Vorwand. Diesmal ist es, weil die Muslime im Aurès-Gebirge aufmucken. André traut den Arabern jetzt nicht mehr über den Weg. Gestern kam er betrunken aus der Stadt zurück und hat mich zusammengeschlagen.«
Er zog sein Hemd hoch und zeigte mir seinen aufgeschürften Rücken. André war nicht gerade zimperlich gewesen.
Djelloul drehte sich wieder zu mir um, stopfte das Hemd in seine staubige Hose, nieste kräftig und fügte hinzu:
»Er hat gesagt, das wäre zur Vorbeugung, damit ich gar nicht erst auf dumme Gedanken käme und ein für alle Male kapieren würde, dass er der Chef ist und das Domestikenpack parieren muss.«
Djelloul wollte offenbar etwas von mir. Er nahm seine Scheschia ab und knautschte sie in seinen schwärzlichen Händen:
»Ich bin nicht gekommen, um dir mein Leben zu erzählen, Jonas. André hat mich rausgeschmissen, ohne mir einen müden Sou zu zahlen. Ich will nicht völlig abgerissen bei meiner Familie aufkreuzen. Ohne mich würde sie vor Hunger krepieren.«
»Wie viel brauchst du denn?«
»Genug, um uns für drei oder vier Tage über Wasser zu halten.«
»Ichbin gleich wieder da.«
Ich lief auf mein Zimmer und kam mit zwei FünfzigFrancs-Scheinen zurück. Djelloul nahm sie ohne Hast, drehte sie ratlos in seinen Händen:
»Das ist viel zu viel Geld. Das kann ich dir nie zurückgeben.«
»Das musst du auch nicht.«
Meine Großzügigkeit irritierte ihn. Er bewegte den Kopf hin und her, dachte angestrengt nach, biss die Lippen zusammen und antwortete dann:
»Wenn das so ist, nehme ich nur einen Schein.«
»Nimm sie beide, es kommt von Herzen.«
»Daran zweifle ich nicht, aber es ist nicht nötig.«
»Hast du denn Arbeit in Aussicht?«
Ein rätselhaftes Lächeln erhellte seine Züge:
»Nein, aber André kommt nicht ohne mich zurecht. Er wird mich vor Ende der Woche zurückholen. Er findet weit und breit keinen tauglicheren Köter als mich.«
»Warum denkst du so schlecht über dich?«
»Du kannst das nicht verstehen. Du bist einer von uns , aber du führst ihr Leben … Wenn man der einzige Geldverdiener in einer Familie ist, die aus einer halbverrückten Mutter besteht, einem Vater, dem beide Arme amputiert sind, sechs Geschwistern, einer Großmutter, zwei verstoßenen Tanten mitsamt ihrer Kinderschar und einem jahraus, jahrein kränkelnden Onkel, dann ist man kein Mensch mehr … Egal, ob Hund oder Schakal, das getretene Tier kriecht stets zurück zu seinem Herrn.«
Ich war sprachlos angesichts der Härte seiner Worte. Djelloul war noch keine zwanzig, aber er strahlte eine unsichtbare Stärke und eine Reife aus, die mich beeindruckten. An jenem Morgen hatte er aufgehört, der unterwürfige Knecht zu sein, an den er uns gewöhnt hatte. Der Junge, der da vor mir stand, war ein anderer. Seltsamerweise entdeckte ich Züge an ihm, die mir vorher nie aufgefallen waren. Er hatte ein markantes Gesicht mit hervorstehenden Wangenknochen und einen Blick, demman erst mal standhalten musste. Und er trug eine Würde zur Schau, die ich ihm nie zugetraut hätte.
»Danke, Jonas«, sagte er. »Ich werde es dir eines Tages vergelten.«
Er machte auf dem Absatz kehrt und humpelte unter Schmerzen los.
»Warte!«, rief ich ihm hinterher. »Du wirst doch nicht mit einem so übel zugerichteten Fuß durch die Gegend laufen.«
»Ich habe mich ja auch bis hierher geschleppt.«
»Mag sein, aber das hat deine Wunde nur noch verschlimmert … Wo wohnst du
Weitere Kostenlose Bücher