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Die Schuld des Tages an die Nacht

Titel: Die Schuld des Tages an die Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yasmina Khadra
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niemanden verraten, hörst du? Sieh mich nicht so an. Ich verbiete dir, so zu grinsen. Ich habe niemanden ans Messer geliefert, ich doch nicht, keinen Menschen habe ich verpfiffen …«
    Die Tür ging auf. Mein Onkel kam heraus, bleich vor Wut und mit Schaum vor dem Mund. Er rempelte uns an, ohne uns zu bemerken und lief dann schnurstracks auf sein Zimmer.
    Germaine betrat als Erste das Arbeitszimmer, ich folgte ihr. Es war kein Mensch im Raum.
    Zu Herbstbeginn sah ich Madame Cazenave wieder. Es regnete, und Río war richtig trostlos. Ohne die Tische auf den Terrassen wirkten die Cafés wie Treffpunkte für Tagediebe. Madame Cazenave hatte noch immer diese schwebende Art, aber mein Herz schlug nicht schneller. War es der Regen, der die Leidenschaft abkühlte, oder entzauberte die graue Tristesse die Erinnerung? Ich mochte nicht weiter darüber nachdenken. Ich wechselte die Straßenseite, um ihr nicht zu begegnen.
    In Río Salado, einem Ort, der nur von der Sonne lebte, war der Herbst eine tote Jahreszeit. Die Masken fielen wie Blätter von den Bäumen, und die Liebschaften traf leicht ein frostiger Hauch. Jean-Christophe Lamy bekam es hautnah zu spüren. Er tauchte bei Fabrice auf der Veranda auf, wo wir auf Simon warteten, der nach Oran gefahren war. Wortlos nahm er eine Bank in Beschlag und überließ sich seiner Trübsal.
    Simonkam unverrichteter Dinge aus Oran zurück, wo er sein Komikertalent hatte demonstrieren wollen. Er hatte in der Zeitung gelesen, dass man junge Humoristen suchte, und es für die Chance seines Lebens gehalten. Er hatte die Annonce herausgerissen, sich in Schale geworfen und war in den nächsten Autobus Richtung Ruhm gesprungen. Seinem Schmollmund nach zu schließen, hatten die Dinge sich nicht so entwickelt wie erhofft.
    »Na?«, ermunterte ihn Fabrice.
    Simon ließ sich in einen Korbstuhl fallen und verschränkte misslaunig die Arme über seinem Bauch.
    »Was ist denn passiert?«
    »Nichts!«, schnarrte er. »Gar nichts ist passiert. Diese Saftsäcke haben mir nicht die geringste Chance gelassen … Von Anfang an habe ich gespürt, das ist nicht mein Tag. Ich habe vier Stunden hinter den Kulissen herumgehangen, bevor sie mich auf die Bühne gerufen haben. Erste Überraschung, der Theatersaal war gähnend leer. Da saß nur so ein alter Schnösel im ersten Rang, und neben ihm eine vertrocknete Schachtel, eine Art Eule mit Nickelbrille. Und dann hatten sie einen enormen Scheinwerfer auf meine Birne gerichtet. Wie beim Kreuzverhör. ›Bitte sehr, Monsieur Benyamin‹, sagte der alte Schnösel mit Grabesstimme. Ich schwör’s euch, ich dachte schon, mein Urahn ruft aus der Tiefe seiner Gruft nach mir. Er war eisig, völlig unzugänglich; den hätten keine tausend Trauerkerzen zum Auftauen gebracht. Ich hatte noch gar nicht richtig angefangen, da unterbrach er mich schon. ›Wo liegt der Unterschied zwischen einem Clown und einem Hanswurst, Monsieur Benyamin?‹, fauchte er los. ›Der Clown bringt die Leute zum Lachen, weil er witzig und melancholisch ist; der Hanswurst, weil er so lächerlich ist.‹ Dann gab er Zeichen, den Nächsten aufzurufen.«
    Fabrice bog sich vor Lachen.
    »Ich habe zwei geschlagene Stunden damit zugebracht, mich in der Garderobe wieder abzuregen. Wenn der olle Schnösel ge kommenwäre, um sich bei mir zu entschuldigen, ich glaub, ich hätte ihn roh verspeist … Ihr hättet die beiden mal sehen sollen, in diesem riesigen leeren Saal, mit ihren Leichenbittermienen.«
    Jean-Christophe war wütend, weil wir lachten.
    »Probleme?«, fragte Fabrice.
    Jean-Christophe senkte den Kopf und antwortete seufzend:
    »Isabelle geht mir allmählich auf den Geist.«
    »Und das merkst du erst jetzt?«, entgegnete Simon. »Ich hab dir schon immer gesagt, das ist nicht die Richtige für dich.«
    »Liebe ist blind«, philosophierte Fabrice.
    »Sie macht blind«, korrigierte Simon.
    »Ist es ernst?«, fragte ich Jean-Christophe.
    »Wieso? Bist du noch immer an ihr interessiert?«
    Er warf mir einen seltsamen Blick zu und fuhr fort:
    »Das zwischen euch war nie wirklich zu Ende, stimmt’s, Jonas …? Na ja, ich hab jedenfalls die Nase voll von dieser Kuh. Ich überlass sie dir gerne.«
    »Wie kommst du darauf, dass ich mich für sie interessiere?«
    »Sie liebt ja doch nur dich!«, schrie er und haute mit der Faust auf den Tisch.
    Stille trat ein. Fabrice und Simon blickten abwechselnd zu ihm und zu mir. Jean-Christophe war wirklich böse auf mich.
    »Was redest du denn da?«, fragte ich

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