Die Schuld wird nie vergehen
Morelli schaute von Ami zu dem Stellvertretenden Bezirksstaatsanwalt.
»Ist diese Frau ihre Anwältin?« Kirkpatricks Stimme klang erstickt, während er krampfhaft versuchte, seiner Wut Herr zu werden.
»Antworten Sie nicht auf diese Frage«, befahl Ami. »Ich sollte wohl besser den Ratschlägen meiner Anwältin folgen, Mr. Kirkpatrick«, erwiderte Morelli liebenswürdig. Kirkpatrick sah aus, als hätte er Ami am liebsten gewürgt. »Sie halten sich wohl für sehr clever, was?«
»Ich halte mich für die Anwältin dieses Gentleman, und ansonsten schulden Sie mir wohl eine Entschuldigung.«
Kirkpatrick starrte Ami einen Moment wütend an, drehte sich auf dem Absatz herum und marschierte hinaus. Walsh nahm seine Niederlage gelassener hin. Er schüttelte den Kopf und lächelte Ami respektvoll an.
»Ich würde mich gern mit meinem Mandanten beraten, Dr. Ganett«, erklärte Ami entschlossen.
»Natürlich. Entschuldigen Sie. Ich hatte nur Sorge, dass ...«
Er geriet ins Stammeln.
»Schon gut«, antwortete Ami großmütig. »Ich bin froh, dass Sie besorgt genug waren, dass Sie mich überprüft haben. Die meisten Leute wären nicht so gewissenhaft gewesen.«
»Was sollte das denn?« fragte Morelli, als sie allein waren. Ami ließ sich auf einen Stuhl sinken. Sie zitterte am ganzen Körper.
»Geht es ihnen gut?« erkundigte sich Morelli nun freundlicher.
»Nicht wirklich. Dieser Idiot Kirkpatrick hat mich beschuldigt
...« Sie schüttelte den Kopf. »Er hat mir alles Mögliche unter- stellt. Er hat sogar gesagt, ich wäre ein Sensationsgeier.« Sie sah Morelli an. »Sie hätten mich verhaftet, wenn Sie nicht gesagt hätten, dass ich Ihre Anwältin sei. Danke, Dan.«
»Gern geschehen. Kirkpatrick ist wirklich ein Idiot.« Er lächelte. »Es hat mir gefallen, wie Sie mit ihm umgesprungen sind.« Er lachte plötzlich laut auf. »Ich dachte schon, sein Kopf würde explodieren, als Sie ihm sagten, er solle sich bei Ihnen entschuldigen.«
Ami rang einen Moment um ihre Würde, doch dann fiel plötzlich die Spannung von ihr ab, und sie kicherte haltlos.
»Er war wirklich ganz oben auf der Palme, stimmt's?« fragte Ami.
»Ich glaube nicht, dass er Leute mag, die sich gegen ihn stellen.«
Ami errötete. Sie war stolz, dass sie nicht gekuscht hatte.
»Wir müssen über zwei Dinge reden«, sagte sie dann. »Zuerst: Sie brauchen einen Anwalt.«
Morelli wollte etwas sagen, aber Ami fiel ihm ins Wort.
»Ich werde Sie nur so lange vertreten, bis ich einen guten Strafverteidiger finde, der mich ersetzt. Aber Sie brauchen Hilfe.«
»Ich weiß nicht, ob ich Hilfe will.« Morelli wirkte traurig und mutlos. Sein plötzlicher Stimmungsumschwung erschreckte Ami. »Ich hätte Barney beinahe umgebracht, und ich hätte diesen Cop mit Sicherheit getötet, wenn sein Partner mich nicht niedergeschossen hätte.«
»Warum haben Sie das getan?«
»Als Barney nach mir schlug, hat meine Ausbildung die Oberhand gewonnen. Ich habe nicht nachgedacht.« Morelli sprach so leise, dass Ami ihn kaum verstehen konnte. »Ich habe geschworen, dass ich nie wieder jemanden verletzen würde, Ami. Ich habe es so sehr versucht.« Er schüttelte den Kopf. »Viel- leicht sollte ich einfach nehmen, was kommt, dann ist die Sache erledigt. Ich bin es so müde, immer wegzulaufen.«
»Wer sind Sie, Dan?« fragte Ami.
Morelli schaute sie an.
»Wer sind Sie wirklich?«
»Ich verstehe Ihre Frage nicht«, antwortete Morelli misstrauisch.
»Die Polizei hat Ihren Ausweis überprüft. Er ist gefälscht. Und sie haben Ihre Fingerabdrücke durch den Computer laufen lassen. Sie sind nicht registriert. Wer sind Sie?«
Morelli drehte den Kopf weg. »Ich bin niemand, den Sie gern kennen wollen«, antwortete er traurig.
»Dan, ich möchte Ihnen wirklich helfen.«
»Das weiß ich zu schätzen, aber jetzt sollten Sie lieber gehen.«
8. KAPITEL
Vanessa Kohl er lief unruhig in ihrem Zimmer auf und ab. Sie fühlte sich wie eine eingesperrte Katze, nicht wie ein Hotelgast. Aus ihrem Fenster sah sie die schneebedeckten Hänge des Mount Hood und die Segelboote, die auf dem Willamette River kreuzten. Auf den Straßen drängten sich die Menschen, um den Sonnenschein zu genießen. Vanessa hätte alles darum gegeben, ebenfalls an der frischen Luft sein zu können, statt die klimatisierte Luft des Hotels atmen zu müssen, aber sie fürchtete, dass sie Ami Verganos Anruf verpassen könnte.
Eine Zeitlang hatte Vanessa versucht, sich mit Fernsehen abzulenken, doch die Shows
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