Die Schuld
Anklage um ein paar Punkte erweitert wird.«
»Gibt's da keine Zweifel?«, fragte Clay.
»Ist alles auf Video.«
Damit war das Gespräch beendet, denn auf der anderen Seite der Plexiglasscheibe wurde Tequila von zwei Wärtern zu seinem Platz geführt. Normalerweise wurden den Häftlingen die Handschellen abgenommen, wenn sie mit ihren Anwälten sprachen. Offensichtlich hatte man sich in Tequilas Fall dagegen entschieden. Als er sich setzte, traten die Wärter zwar etwas zurück, blieben aber in der Nähe.
Tequilas linkes Auge war so stark geschwollen, dass er darauf vermutlich nicht sah. Seine Augenwinkel waren mit getrocknetem Blut verklebt. Das rechte Auge war nicht geschwollen, aber die Pupille war grellrot. Auf seiner Stirn prangte ein Klebeband mit einer Mullbinde darunter, auf seinem Kinn klebte ein Pflaster. Auch seine Lippen und Wangen waren stark angeschwollen. Unwillkürlich fragte Clay sich, ob der Mann, der ihm da in etwa einem Meter Entfernung hinter der Plexiglasscheibe gegenübersaß und brutal zusammengeschlagen worden war, tatsächlich sein Mandant war.
Clay nahm den schwarzen Hörer und forderte Tequila durch eine Geste auf, dasselbe zu tun. Umständlich ergriff Tequila den Hörer auf seiner Seite mit beiden Händen.
»Sie sind Tequila Watson?« Clay blickte seinem Mandanten in das halbwegs unversehrte Auge.
Tequila nickte sehr langsam, als würden ihm lose Knochen durch den Kopf fliegen.
»Waren Sie beim Arzt?«
Ein Nicken. Ja.
»Haben die Wärter Sie so zugerichtet?«
Tequila schüttelte den Kopf, ohne zu zögern. Nein. »Die anderen Jungs aus Ihrer Zelle?«
Ein Nicken. Ja.
Es war schwer vorstellbar, dass ein Le ichtgewicht wie Tequila Watson, der deutlich unter siebzig Kilo wog, die anderen Insassen einer überbelegten Gefängniszelle einschüchtern konnte.
»Kannten Sie den Jungen?«
Kopfschütteln. Nein.
Bis jetzt wäre Tequilas Hörer nicht vonnöten gewesen.
Allmählich hatte Clay das ewige Nicken und Kopfschütteln satt.
»Warum haben Sie ihn verprügelt?«
Unter großer Anstrengung öffnete Tequila die geschwollenen Lippen. »Weiß ich nicht.« Er brachte die Antwort nur mühsam und offenbar unter Schmerzen hervor.
»Na großartig, Tequila. Damit kann ich wirklich viel anfangen. Wie wäre es mit Selbstverteidigung? Hat er Sie angegriffen? Zuerst zugeschlagen?«
»Nein.«
»War er auf Drogen oder betrunken?«
»Nein.«
»Hat er Sie beleidigt oder bedroht?«
»Nein… geschlafen.«
»Wie bitte?«
»Er hat geschlafen.«
»Und dabei zu laut geschnarcht?… Vergessen Sie's.« Clay wandte den Blick ab. Plötzlich hatte er das Gefühl, sich Notizen auf seinen gelben Notizblock kritzeln zu müssen. Er notierte Datum, Zeit und Ort des Gesprächs sowie den Namen seines Mandanten. Dann fiel ihm nichts Wichtiges mehr ein, das festgehalten zu werden lohnte. In seinem Gedächtnis waren hundert Fragen gespeichert, und weitere hundert hatte er noch in Reserve. Eigentlich wurden bei diesen ersten Gesprächen fast immer dieselben Fragen gestellt: Man erkundigte sich beim Mandanten nach seinem elenden Leben und wie es dazu gekommen war, dass man sich jetzt hier gegenübersaß. Die Wahrheit lag immer verborgen wie seltene Edelsteine und gelangte nur dann durch die Plexiglasscheibe, wenn sich der Mandant nicht bedroht fühlte. Fragen zu den Bereichen Familie, Schule, Jobs und Freunde wurden in aller Regel ziemlich aufrichtig beantwortet. Doch wenn es um das jeweilige Verbrechen ging, musste man äußerst geschickt agieren. Jeder Strafverteidiger wusste, dass es bei den ersten Gesprächen mit einem Mandanten wenig förderlich war, sich zu sehr auf die Straftat zu konzentrieren. Man grub an anderer Stelle nach Details. Forschte nach, ohne dem Mandanten die Führung zu überlassen. Vielleicht kam die Wahrheit ja später ans Tageslicht. Wie auch immer, mit Tequila schien es sich anders zu verhalten. Angst vor der Wahrheit konnte man ihm bislang nicht vorwerfen. Clay entschloss sich zu einem Schritt, der ihm unter Umständen viel wertvolle Zeit ersparen konnte. Er beugte sich vor und sagte mit gedämpfter Stimme: »Es heißt, Sie haben einen Jungen durch fünf Schüsse in den Kopf getötet.« Der geschwollene Kopf bewegte sich leicht auf und ab. »Einen gewissen Ramón Pumphrey, auch unter dem Namen Pumpkin bekannt. Kannten Sie ihn?«
Wieder ein Nicken.
»Haben Sie ihn erschossen?«, fragte Clay fast flüsternd. Die Wärter passten zwar nicht auf, aber das änderte nichts daran, dass
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